Montag, 14. Oktober 2013

Tonna: Aufwachen


Der Himmel ist blau, weissblau, papierblau wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Milch. Das Licht fliesst wie Wasser ins Zimmer, berührt die graugemusterten Vorhänge, verfängt sich in den Falten, legt sich auf den Boden und kriecht langsam über den Teppich auf die Wand zu. Die ersten Farben mischen sich ins Grau und ins Schwarz und ins Braun der Nacht, sanft, als kratze man mit einem Schaber die oberste, noch feuchte Schicht eines frischübermalten Ölgemäldes fort und dahinter kämen die alterhaltenen Farben zart und hell zum Vorschein. Der Papagei liegt auf einer Matratze neben meinem Bett und gurgelt seltsame Geräusche im Schlaf. 'Hey', sage ich und stupse mit meiner Hand gegen die Matratze, aber dann frage ich mich, warum ich ihn überhaupt wecken will. Vorsichtig, vorsichtig stehe ich auf, steige über sein Gesicht und das Knäuel, das sein Körper unter der Bettdecke bildet, und kippe das Fenster nach innen. Die Luft, die von draussen hereinkommt, ist warm und weich. Ich gehe wieder an der Matratze vorbei und mache die Tür auf, gehe hindurch und schliesse sie lautlos wieder hinter mir, mit dem Klicken, das Metall macht, wenn es gegen Metall schlägt, rastet die Tür ins Schloss. Im Zimmer lag ein unangenehmer Geruch, der mir erst jetzt auffällt, wo ich nicht mehr diese Luft atmen muss. Nach dem Papagei roch sie und kaltem Zigarettenrauch. Ich gehe in die Küche und mache mir ein Müsli mit Cornflakes und Bananen und setze mich an den Tisch. Es ist noch niemand wach, still liegt das Haus da, das Zwitschern der Vögel dringt nicht durch die dicken Wände, und die Cornflakes in der Schüssel schwappen hin und her. Ich überlege mir, was ich sagen soll, wenn meine Eltern fragen, was das für ein Junge in meinem Zimmer ist und warum er hier schläft. Sie werden denken, ich hätte etwas mit ihm gehabt. Sie werden denken, er wäre mein neuer Freund. Sie werden es sich vorstellen, wie er sich mit mir auf mein Bett fallen lässt und seine Hand über meinen Bauch hinunter bis zwischen meine Beine fährt. Beim Gedanken daran wird mir leicht schlecht. Jedes Mal, wenn Quentin hier übernachtet, macht mein Vater am nächsten Morgen seltsam verklemmte Witze und meine Mutter fragt ihn, wann er denn mit dem Rauchen aufhören will. Meine Mutter hat eine Liste mit bevorzugten Verlobten für mich. Quentin war einmal an erster Stelle, aber dann hat sie herausgefunden, dass er raucht, und da ist er um zwei Plätze nach hinten gerutscht. Und dass er sich einmal über Frauen in Absatzschuhen und kurzen Kleidern lustig gemacht hat, fand sie gar nicht gut, sie hofft noch immer, ich könnte eines dieser Zwitschermädchen werden, die rosa Handtaschen tragen und sich die Augenlider schminken und dann in zu laute Clubs gehen und sich von Männern wie dem Papagei überteuerte Drinks bezahlen lassen, die sie aus langen Strohhalmen saugen, und dass Quentin das anders sah, ärgerte sie. Als ich Quentin von der Liste erzählt habe, hat er gelacht. Und dann war er auf einmal still, und ich wusste, was er gerade dachte: Wenn ich mich einmal verloben würde, dann würde es zwischen uns nicht mehr so sein wie jetzt. Nicht aus Eifersucht, ich würde schon aus Prinzip niemanden von der Liste meiner Mutter nehmen, aber irgendetwas würde ausklingen, die Luft zwischen uns würde dünner werden und aufhören zu vibrieren und wir würden uns seltener sehen und uns über Dinge unterhalten, die uns nichts bedeuten, und irgendwann würde Quentin den Kopf wegdrehen und sagen: Das ist doch banal. Und das wäre es dann auch, wir wären banal, und hätten es nicht einmal bemerkt.

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