Quentin

Model: Fabian Biland
Alter: 18

Musik: Them Crooked Vultures - Dead End Friends

Wie viel Bier: 8

Erstes Mal: Als Quentin das erste Mal Sex hatte, war er 14. Sie war älter als er, und wenn Quentin sich daran erinnert, versucht er, an etwas anderes zu denken, weil er weiss, dass es ihn nicht glücklich macht.





Aufwachen
Ich erwache vom brüllenden Lärm eines wildgewordenen Löwenmännchens, das von hoch oben hinunter in meine Ohren schreit. Ein paar Tropfen seiner Spucke rinnen über meine Stirn. Ich mache die Augen auf, sie sind nass und verklebt, eine gelbliche Schicht liegt über meinem Gesichtsfeld. Es ist keine Spucke, es ist Bier, und es ist kein Löwe, es ist eine Autobahnbrücke. Ich versuche mich aufzusetzen. Ich setze mich auf. Ich sitze auf einem Stein, er ist unangenehm scharf und pikst in mein Bein. Ich sitze schräg in einem Hang, hinter mir steigt die Welt leicht an, Betonplatten, die die Erde am Boden halten, über den Platten läuft die Brücke in den Hang. Vor mir ein Kiesweg, darunter Büsche, dann ein Fluss. Die Welt riecht nach erkaltetem Rauch und Bier, oder ich rieche nach erkaltetem Rauch und nach Bier. Ich versuche aufzustehen, mir wird ein wenig schwarz vor Augen, aber ich stehe. Kopfschmerzen kommen und gehen in Wellen, sinuskurvengleich. Ich klettere den Abhang hinunter auf den Weg, der Kies knirscht und wirft weissen Staub in die Luft. Keine Schuhe habe ich an. Nur Socken. Ich drehe mich nach links, nach rechts. Kein Mensch, keine Möwe, verdreckte Tauben nur. Wie spät es wohl ist? Es muss früher Morgen sein, der Himmel ist schon hell, aber keine Sonne, und auch keine Wolken, hinter der sich die Sonne verstecken könnte. Es ist Tag. Es war Nacht. Was war in der Nacht? Party. Js Party. Ich kann mich ziemlich gut an letzte Nacht erinnern. Die Fülle der Erinnerungen steht in keinem Verhältnis zum Alkoholkonsum. Oder den Kopfschmerzen. Vielleicht ersetzen die Kopfschmerzen ja die fehlenden Erinnerungen. Vielleicht erhält man immer nur das eine, Kopfschmerzen oder Blackout, und es ist wie Lotto, was man kriegt, wie Roulette, ausser dass man nicht setzen kann. Ich will auf mein Smartphone schauen, um die Zeit zu erfahren, aber noch bevor ich nach meiner Hosentasche fassen kann, fällt mir ein, dass ich ja kein Smartphone besitze. Ich durchsuche dann trotzdem die Hosentasche und finde mein aufklappbares Retrohandy, das so alt ist, dass es eigentlich in sein sollte, es aber nicht ist. Keine Anrufe verpasst, zwei seltsam verzweifelt klingende SMS von Tonna von 5 Uhr 03 und 5 Uhr 04. '?Wo bist du?' und 'Wo bist du, Hilfe, der Papagei'. Es hat keinen Sinn, ihr jetzt zurückzuschreiben, sie wird es vergessen haben. Was macht der Papagei mit Tonna? Ich überlege, ob ich wütend werden sollte, aber mir will nicht einfallen weshalb, also lasse ich es sein. Es ist halb sechs, sagt mein Handy mir. Zu früh, um nach Hause zu gehen. Wohin dann? Immer noch niemand auf diesem komischen Kiesweg, auf dem ich so verlassen stehe. Wohin nur? Ich würde gerne zurück an die Party, aber die Party ist vorbei.



 
Rhododendron
Ich komme an einem Haus vorbei. Es ist Js Haus. Oder das seiner reich geborenen und durch Aktiengeschäfte und kleinkriminellem Steuerhinterzug noch reicher gewordenen Eltern. Das Haus ist gross und weissgekalkt und steht auf der anderen Seite der Strasse, hinter einem schwarzen Zaun, hoch und edel und abweisend und pseudoantik. Ich glaube, ich bin da gestern drüber geklettert. Der Garten liegt versteckt hinter Rhododendronbüschen mit ekelerregend fleischigen Blättern, die nach mir zu greifen scheinen. Dämlich dunkelgrün schweben sie in der Morgenluft. Ich würde gerne in den Garten schauen, um zu sehen, ob alles noch daliegt, Bierdosen, Bierdeckel, Wodkaflaschen, halbleere und auch ganz leere, dafür zersplitterte Kleiner-Feigling-Flaschen, so wie sie gestern dalagen, gestern Nacht, heute Nacht, aber dazu müsste ich die Strasse überqueren, und die Strasse scheint mir, obwohl kein Auto fährt, wie ein reissender brasilianischer Fluss voller Alligatoren, obwohl ich eigentlich weiss, dass Alligatoren in stillen, nicht in reissenden Gewässern lauern. Ich würde gerne Tonna anrufen. Ich würde gerne gegen den Rhododendron kotzen. Habe ich gestern auf dem Tisch getanzt?






 
Blaue Kent
Ich sitze auf einer kleinen, grüngelben Wiese am Fluss. Ich bin nochmals eingeschlafen und nochmals aufgewacht. Mir geht es besser jetzt, die Träume waren heller, klarer, weniger verworren und bedrängend, der zähe grüne Schleim in meinem Kopf ist beinahe fort. Die Welt riecht immer noch ein wenig schlecht, vielleicht ist der Geruch in meiner Nase, in meinem Schädel, vielleicht bin ich schizophren und er verfolgt mich nun für immer. Wie Tinnitus. Ich durchsuche meine Jackentaschen nach Kaugummi und finde eine halbvolle, zerquetschte Packung Kent, die nicht mir gehört. Ein blassrosa Feuerzeug mit Pferden darauf ist drin, was ich seltsam finde. Es hat etwas Kindliches, als gehöre es einer Primarschülerin mit braunen Locken und Glitzerfingernägeln und einem Stapel Wendyheftchen, die sie während der Mathestunde unter dem Pult liest und daraus Zitate in die Freundschaftsbücher ihrer Freundinnen abschreibt. Aber was sollte ein solches Mädchen mit einem Feuerzeug und einer Packung blauer Kent? Die Zigaretten könnten Fee gehören, das würde passen, aber ich habe keine Ahnung, wie sie in meine Jackentasche gekommen sind. Mein Bezug zu Fee ist nicht so toll, dass sie mir ihre Zigaretten schenken würde, und ich bin nicht der Typ, der einem Mädchen die Zigaretten stiehlt, wenn es gerade nicht hinsieht oder anderswie beschäftigt ist. Obwohl, bei Fee wäre das irgendwie noch ganz amüsant. Ich glaube auch nicht, dass es ihr auffallen würde, Fee raucht nur, wenn Leute dabei sind, und auch nur, weil sie denkt, das mache sie verführerisch. Aber da bräuchte es schon mehr als das bisschen Rauch vor ihrem Gesicht, dass irgendjemand von uns Fee begehren könnte. Ausser vielleicht der Papagei, aber der steht auch auf alles, was lange Haare hat und auf den ersten Blick nach Frau aussieht. Was macht der Papagei bei Tonna? Die Zigaretten sind seltsam, der Filter ist nicht orange, sondern weiss und hat einen blauen Strich drauf. Klick-Zigaretten, auch das noch. Ich zünde die Zigarette mit dem Pferdefeuerzeug an und widerstehe der Versuchung, sie zu klicken. Die Versuchung kommt nicht aus mir, von innen, fremd und uneingeladen und widerlich steht sie vor mir und grinst mir anzüglich zu. Ich will kein Pfefferminz in meinem Rauch, in meinen Atemwegen, und eine ungeklickte Klickzigarette zu rauchen ist, als würde ich der Versuchung mit der Faust ins Gesicht schlagen, bis sie Blut auf den Boden spuckt und sich mit dem Ärmel über Mund und Nase wischt und rot schmiert sie sich die gefärbte Spucke, den gefärbten Rotz über die Wangen und im Mundwinkel sammeln sich Blutblasen, kleine nur, die aufblubbern und lautlos zerplatzen.



Gedanken über den Schellenunder
Wenn ich an gestern denke, kommt mir als erstes die Erinnerung an Tonna, wie sie dasitzt und versucht, die Karten zu mischen. Sie fallen ihr herunter, sie lacht ein wenig dumm und nimmt sie wieder auf, kehrt die, die verkehrt herum liegen, wieder um und beginnt von Neuem zu mischen. Ein paar Leute sitzen herum, wir warten um irgendein dämliches Trinkspiel zu spielen. Irgendwann nehme ich Tonna die Karten aus der Hand, um selber zu mischen. Es sind Karten des deutschschweizer Jasskartensets. Zum ersten Mal in meinem Leben fallen mir die Figurenkarten auf, Under, Ober und Könige, und ich vergesse die Menschen um mich herum und nehme die Karten aus dem Set und ordne sie nach Symbolzugehörigkeit um mich herum an. Besonders eine Karte drängt sich mir auf. Er sieht anders aus, der Schellenunder. Anders als der Eichenunder mit dem traurigen Blick, anders als der übereifrige Schiltenunder mit seinem Brief in der ausgestreckten Hand und der Feder hinter dem Ohr, anders als der stolze Rosenunder, der seine Pfeife pafft, als wäre sie ein Statussymbol. Schelmisch lächelnd steht er da, blickt als Einziger mich an, die eine Augenbraue wie im Spott leicht hochgezogen, die Zigarette im Mundwinkel und ein Gebilde um den kreisrunden Kopf geschlungen, von dem ich nicht weiss, nicht wissen kann, ist es ein Hut oder eine Blume, eine Narrenkappe oder ein Fasnachtskostüm? Wer er wohl ist, der Schellenunder, der so anders ist als die anderen, so anders als alle anderen Karten im Spiel? Versteht er sich mit ihnen, mit den Königen, den Obern, den anderen Undern, oder gehört er gar nicht dazu? Er gehört nicht auf dieselbe Weise zum Spiel, wie sie zum Spiel gehören. Er gehört zum Spiel, aber nicht dem Spiel. Er ist mehr als ein Bild auf einer Karte, mehr als eine Figur im Rennen, mehr als eine Punktzahl auf dem Blatt. Er hat ein Leben, irgendwo ausserhalb der Ränder seiner weissen Karte, irgendwo dort, wo wir nur in den Träumen hingelangen, steht er da und lacht und küsst eine Frau.
'Spielen wir jetzt ein Trinkspiel oder nicht?', fragte irgendjemand, ich glaube, es war Häschen, wütend, weil er ohne Trinkspiele nicht weiss, wie er Spass haben soll. 'Quentin, gib die Karten her.' Ich wollte erst aufstehen und die Runde verlassen, aber dann dachte ich, was solls, zündete mir eine Zigarette an und schenkte mir von dem herumstehenden Whisky vierfingerbreit ein in mein Glas.






Hardest Button to Button
Ich sitze immer noch am Fluss. Es wäre eigentlich spät genug, um nach Hause gehen zu können, ein wenig zu schlafen, vielleicht duschen, aber irgendwie will ich nicht mehr. Ich bin nicht müde, und beim Gedanken an Wasser, das aus dem Duschkopf rinnt, wird mir schlecht. Ich nehme mein Handy, es sagt mir ungefragt, der Akku sei beinahe leer, und klicke auf Musik. Ich habe meine Items, oder wie man denen sagt, diese Dinger, Kontakte, Fotos und so weiter und eben Musik in einer Liste geordnet, also nach Sprache, nach dem Wort, nicht nach Bildchen. Ich habe nur drei Lieder, eins davon ist ein Klingelton, den ich vor Urzeiten selber komponiert habe, er klingt nach Salsa und Süden und wiederholt sich alle sechs Sekunden, die beiden anderen Lieder sind von den White Stripes. Black Math und Hardest Button to Button. Ich spiele sie ab, zuerst Black Math, rauche dazu noch mehr Kent und als ich nach drei Minuten zu Hardest Button to Button komme, fällt es mir wieder ein. Ich habe doch auf dem Tisch getanzt. Zu diesem Lied, ich glaube, Tonna hat es abgespielt, irgendwann, als alle zu betrunken waren, um ihr die Musikanlage streitig zu machen. Keine Minute dauerte es, bis wieder irgendein pseudorebellisches Punkgeschrei, irgendein Offspringsong, irgendein Pagan-Metal-Trinklied lief, nicht einmal bis zum Refrain kamen wir. Fünfzig Sekunden, höchstens, und in diesen fünfzig Sekunden, in den besten fünfzig Sekunden der ganzen Party, bin ich auf den Tisch gesprungen und habe zu Hardest Button to Button getanzt, obwohl das ein Lied ist, zu dem kein Mensch und schon gar nicht ich tanzen kann.







Erinnerungen an letzte Nacht
Erinnerung an letzte Nacht, von der ich nicht weiss, ob sie ein Traum war oder wirklich geschah.

Zitternd schwingt die dickgewordene Luft, dumpf vibrieren die Wände im Bass. Die Lampen an der niedrigen Decke, an der sich Köpfe stossen, bewegen sich hin und her und werfen zuckende Schatten auf den Boden, zuckende Schattengestalten von Menschen, die sich in der Musik wie in Flüssigkeit bewegen. Es ist eng, eng und stickig, der Geruch nach Alkohol, Rauch und Schweiss beginnt sich festzusetzen in den Wänden, in den Möbeln, in den Ecken. Irgendjemand stoppt abrupt das Lied um ein nächstes abzuspielen, ein langsameres, leichteres, flüssigeres, eines, während welchem die Lampen Zeit haben, sich in den Stillstand zu schwingen. Ich blicke mich um, sehe Pärchen an Wänden lehnen, Männer mit Frauen tanzen und Menschen, die Gläser leeren, als enthielten sie nur Wasser. Irgendwo am anderen Ende des Raumes wendet sich ein Gesicht mir zu, als hätte sie meinen Blick angesogen, gerufen, hebt Tonna den Kopf und sieht mich mit einer Verzweiflung an, die um Hilfe schreit. Ich beginne mich durch den Raum zu kämpfen, versuche, nicht abgelenkt zu werden von meinen Gedanken, die sich in Nebel verlieren und schwimme durch die alkoholgesättigte Luft, ich weiss nicht, wo mein Atem endet und wo die Menschen beginnen. Der Boden klebt unter meinen Füssen wie sumpfiger Morast, der sich mit einem seufzenden Ploppen von den Fusssohlen löst, es ist spät, viel zu spät, es ist die Zeit, in welcher Gläser brechen, Menschen zu zweit in Zimmern verschwinden und man schlafen sollte, nur schlafen, bis die Träume kommen, aber den Weg nicht finden können. Tonna streckt die Hände nach mir aus, hilflos wie ein Fisch, der an der Luft erstickt. Wenn ein Fisch ersticken kann. 'Komm.' Ich forme das Wort mit den Lippen, nicht mit meiner Kehle, mein Hals ist wundgerufen, wundgeraucht und die Musik lässt keine Geräusche neben sich zu. Ich ziehe Tonna zur Tür, über das schwankende Treppenhaus in ein fremdes Zimmer mit weissen Gästebetten. Am anderen Ende des Zimmers murmelt jemand leise im Schlaf, ich drücke die Tür hinter uns zu und ersticke den Lichtschimmer, der mit uns auf den Boden fiel, Dunkelheit legt sich über mein Gesichtsfeld. 'Was ist los?', flüstere ich und setze mich mit Tonna auf eine Matratze, die nicht mir gehört. 'Ich weiss nicht', antwortet sie mit einer Stimme, die weich und geschmeidig und zitternd ist und ich kann hören, dass sie weint. 'Ich bin so einsam', sagt sie leise. Erschrocken greife ich nach ihr, aber alles, was ich fasse, ist die Dunkelheit. 'Du bist nicht einsam', versuche ich zu sagen, aber die Worte verlieren sich irgendwo auf dem Weg zwischen meinem Kopf und meiner Zunge. Ich merke, dass ich betrunken bin, und drücke zwei Finger gegen meine Augen bis es schmerzt, aber der Nebel in meinem Kopf bleibt wie die Dunkelheit im Zimmer, die zermürbende, zerfressende Dunkelheit, die alles verschlingt ausser Tonnas Stimme. 'Wir sind alle einsam', sagt Tonna zwischen zwei Schniefern. 'Wir sind einander nie nahe, nie wirklich. Ich will mich in der Erde vergraben und tausend Jahre schlafen.' Ich drücke die Finger noch stärker in meine Augen und beisse mir auf die Lippen, versuche, die Worte zu finden, die heilen, aber meine Gedanken verflüchtigen sich wie Rauch, ich fasse nach ihnen und sie sind fort. Ich höre Tonna noch immer weinen, ich würde sie gerne festhalten, aber ich kann ihren Körper in der Dunkelheit nicht finden.


Braun
Ich gehe nun doch nach Hause. Ich habe mir an einem Stand, der wie Brezelkönig aussieht und auch Brezeln verkauft, aber kein Brezelkönig ist, einen Becher heissen Milchkaffee gekauft und mir die Zunge daran pelzig gebrannt. Ich laufe eine Strasse entlang. Beim Gehen sehe ich zu Boden, weil meine Füsse seltsam aussehen ohne die Schuhe. Kleiner irgendwie, verletzlicher. Und dreckiger, die Socken sind dunkelbraun vor Schmutz, von dem ich nicht weiss, seit wann er dort hängt, er könnte von überall sein. Braun ist meine Lieblingsfarbe. Die Farbe Braun ist in der Farbskala der Farbenlehre nicht vorhanden, da sie keine eigenständige Farbe ist, sondern eine gebrochene. Braun entsteht, wenn eine warme Farbe zwischen gelb und rot mit schwarz abgedunkelt wird und die Helligkeit unter fünfzig Prozent liegt. Wo sind überhaupt meine Schuhe? Ich kann mich nicht daran erinnern, sie ausgezogen zu haben, bevor ich schlafen ging. Aber ich kann mich auch nicht daran erinnern, wie ich schlafen ging, oder wie ich die Party verlassen habe, oder warum ich es nicht bis nach Hause schaffte, also ist das nicht sonderlich erstaunlich. Ob sie kaputt gegangen sind? Gestohlen wurden? Verloren gingen? Ob ich sie an der Party gelassen habe? Vergessen habe, sie anzuziehen? Ich glaube, ich sollte sie suchen gehen, wenn ich ausgeschlafen bin. Scheussliche Gesichter auf der Strasse, vor den Läden. Alle Menschen sehen scheusslich aus, wohl auch ich. Es gibt kein einziges schönes Gesicht auf der Welt, es gibt niemanden, der unter Deodorant und frisch riechendem Duschgel nicht nach erkalteten Körperflüssigkeiten und abgestorbenen Hautzellen stinkt, nach alter Butter, nach Käse an einem warmen Tag. Ich nehme aus Gedanken auftauchend den Becher in meiner Hand wahr und trinke einen Schluck, trotz meiner verbrannten Zunge schmecke ich die Milch unter dem Kaffee, und mir wird plötzlich übel davon und ich werfe den Becher in den Mülleimer fort.




Zuhause
Zuhause ist niemand. Die Tür ist verschlossen, die Schuhe sind fort, Frühstücksgeschirr steht auf dem Tisch herum. Benutzte Teller, Messer, Löffel, Kaffeetassen mit braunem Boden, halbvolle Nutellagläser, Orangensaft, Milch, Cornflakes, Brotkrümel auf dem Tisch und zurückgeschobene Stühle. Als wären sie alle gerade eben aufgestanden und ohne einen Blick zurück aus der Wohnung spaziert. Wohin sind sie gegangen? Warum haben sie nicht aufgeräumt? Seltsam. Es ist nicht, was sie normalerweise tun. Vielleicht waren sie eingeladen und zu spät dran. Vielleicht habe ich etwas verpasst. Ganz bestimmt habe ich etwas verpasst. Ich stelle mir vor, wie sie alle, meine Familie, meine Mutter, mein Vater, meine Brüder und Schwestern im Auto sitzen wie auf einem Werbefoto für ein Familienprodukt und irgendwohin fahren, zu einem Fest vielleicht, zu einer Party, zu Fröhlichkeit und Spass und ich komme mir plötzlich einsam vor, alleingelassen, zurückgelassen, der letzte Mensch im Universum. 




Allein
Ich starre noch ein wenig den Tisch an, hoffe halb darauf, dass meine Familie nach Hause kommt, ein Nachbar klingelt, irgendjemand hereinspaziert und sich mit mir unterhalten will, aber es ist lächerlich offensichtlich, dass niemand kommen wird, also gehe ich in die Küche, mache mir eine Tasse Schwarztee mit Zitronenstücken darin und setze mich mit ihm und dem Schachbrett an den Tisch. Die Partie, die ich gegen meine jüngere Schwester gespielt habe, steht noch immer so, wie wir sie verlassen haben, schwarze Dame und schwarzer Turm bedrohen weissen König, Schachmatt, weisse Dame irgendwo rechts aussen, ein Zug, und der schwarze König wäre matt. Ich spiele immer mit schwarz, sie immer mit weiss.
 
Meine Schwester ist der einzige Mensch, der mich ab und zu im Schach schlägt. Einmal habe ich gegen Tonna verloren, aber das war Absicht. Sie hat nicht schlecht gespielt, aber ich hätte sie schon ganz zu Anfang mit vier Zügen matt setzen können, mit Bauernzug, Springer zwei Züge, Läufer nach vorne und matt. Der einfachste Schachtrick der Welt, und jeder Trottel fällt darauf herein. Es ist nicht so, dass ich besonders klug wäre oder besonders gut Schach spielen könnte, ich habe es nie irgendwo gelernt oder so, aber die meisten Menschen stellen sich einfach dumm an. Sie wollen gar nicht intelligent sein, sie wollen gar nicht nachdenken, es ist ihnen zu anstrengend, und sie haben vielleicht auch ein bisschen Angst vor dem, was ihre Gehirnwindungen möglicherweise produzieren könnten.


Ich habe die Bezirksschule ja gehasst. Genau deshalb, weil es irgendwie nur Idioten gibt, ganze Rudel von Idioten, und wenn man kein Idiot ist und das nicht gut genug verstecken kann, dann stehen sie im Kreis um dich herum und spucken dich an. Ich war keiner von denen, die angespuckt wurden, aber ich glaube, ich hätte es sein können. Dann wäre ich jetzt wie Adorno, ein überheblicher Junge, der in der Ecke auf einem Sofa sitzt und mit zynischer Miene warmes Billigbier trinkt und alle verachtet. Adorno und ich waren befreundet, in der Primarschule, bevor wir in die Bez kamen. Oder ich wäre tot wie diese Freundin von Tonna, die sie unten beim Schwimmbad aus dem Fluss gezogen haben.

Ich trinke Schwarztee, stelle die Schachfiguren gegeneinander auf und mache halbherzig ein paar Züge, aber gegen sich selbst zu spielen macht irgendwie noch weniger Spass als gegen einen Idioten zu spielen, ich nehme die weisse Dame vom Feld und versuche, sie in meinem Tee zu ertränken, aber sie ist aus Holz und schwimmt obenauf, also fische ich sie wieder heraus, stelle sie tropfend zurück auf ihren Platz und gehe duschen.




Fernsehen
Meine Haare sind nass und tropfen auf das Kopfkissen, der Stoff saugt das Wasser auf, wird feucht, wird nass, die Feuchtigkeit beginnt sich auszubreiten, kriecht meinen Nacken hinunter bis zu meinen Schulterblättern, will nach meinem T- Shirt greifen, aber ich trage kein T-Shirt.

Ich kann nicht schlafen. Die Sonne scheint auf den Balkon vor meinem Zimmer, die Bodenplatten reflektieren die Strahlen und werfen sie durch die verschmutzten Fensterscheiben in mein Zimmer, in dem sich die Hitze wie in einem Dampfkochtopf staut.

Ich stosse die Bettdecke vom Bett, als Knäuel bleibt sie auf dem Boden liegen. Ich habe die Zimmertür offengelassen und lausche darauf, dass jemand nach Hause kommt, aber niemand kommt, niemand macht die Wohnungstür auf, niemand ruft, 'hallo', ich bleibe allein.  

Ich greife nach der Fernbedienung, die auf dem Pult neben meinem Bett liegt und drücke auf den grossen roten Knopf. Der Fernseher gibt einen ekelhaft hohen Ton von sich, der in den Ohren beisst, bevor er sich einschaltet. Die Sonne scheint genau so auf den Bildschirm, dass alle Kontraste sich annähern, die klaren Umrisse verschwimmen, weil es zu hell ist, und man nur mit Mühe die Figuren im Fernseher sehen kann. Ich will einen Sender suchen, auf dem etwas läuft, das mir gefällt, aber ich sehe praktisch nie fern und kenne darum keinen einzigen Sender, also gebe ich wahllos ein paar Nummern ein.

Die ersten beiden Male kommt Mike Shiva, das dritte Mal eine Serie auf Französisch, das vierte und fünfte Mal eine Sendung, die mir irgendetwas verkaufen will und danach gebe ich es auf, irgendwelche Zahlen einzugeben und fange strukturiert von unten an und zappe mich dann hoch. Dreiundfünfzig Kanäle gibt es, bevor sich die Sendungen wiederholen, mit ein paar Ameisenbildschirmen dazwischen. Ich durchzappe die dreiundfünfzig Kanäle einmal und dann noch einmal, weil in der Zwischenzeit vielleicht die eine oder andere Sendung zu Ende gegangen sein könnte und etwas neues läuft, aber ich finde trotzdem nichts, was mir gefallen will.

Irgendwann entscheide ich mich für die Serie auf Französisch, die ich ganz am Anfang gefunden habe, aber ich habe den Sender vergessen und muss noch einmal alle Kanäle durchzappen, bis ich sie auf Nummer siebenundvierzig finde.

Ich lege die Fernbedienung weg und versuche, zu verstehen, um was es geht, aber die Serie ist schlecht synchronisiert, der Ton stimmt nicht mit den Mundbewegungen der Schauspieler überein, ausserdem knistert es irgendwie, und das verwirrt mich und dann ist mein Französisch auf einmal fort und ich verstehe nichts mehr ausser 'ma chérie' und 'merde'. Also konzentriere ich mich auf die Bilder.



Es gibt drei Frauen und drei Männer, die irgendwie zusammen in einer WG wohnen und sie sind alle hübsch und gutangezogen und heterosexuell und gehen zusammen auf Partys, auf denen sie die ganze Nacht feiern und um zwei Uhr morgens zusammen nach Hause gehen, nicht torkeln, und die Schminke der Frauen ist immer noch perfekt und kein bisschen verwischt und dann machen sie noch einen Abstecher zum Strand, der gerade um die Ecke ist, und die Frauen ziehen ihre Stöckelschuhe aus und spielen Fangen mit den Wellen und lachen und die Männer sitzen auf den Liegestühlen und rauchen und unterhalten sich über die Eroberungen der letzten Nacht. Nun ja, ich weiss nicht ganz, worüber sie sprechen, weil mein Französisch nicht mitkommt, aber sie sprechen ganz bestimmt über ihre Eroberungen der Nacht. Und dann kommt die eine Frau von den Wellen zurück und geht mit dem einen Mann fort, am Strand entlang spazieren. Die sind nämlich zusammen. Und es gibt einen kleinen Streit, es scheint, als wäre sie wütend, vielleicht wegen seiner Eroberungen, vielleicht hat er mit einer anderen Frau getanzt, keine Ahnung, das habe ich verpasst, ich kann die nicht ganz auseinanderhalten, die drei Männer. Sie klingt eifersüchtig oder traurig oder gereizt oder einfach nur müde, und dann versöhnen sie sich und er küsst sie und die Kamera zoomt weg von ihren Lippen, von ihren Gesichtern, zeigt den Strand, die Palmen dahinter, die Strandpromenade, die ersten Häuserreihen und die dahinter und die dahinter und das ganze Viertel und dann die ganze Stadt, hell und weiss und sauber, zu hell und weiss und sauber für drei Uhr nachts nach einem Partyabend, und ich mag irgendwie nicht mehr weiterschauen und schalte den Fernseher aus und es ist wieder still.



Plötzlich bereue ich es, die Bettdecke vom Bett gestossen zu haben, das Bett ist irgendwie zu gross für mich und ich umarme mein Kopfkissen, aber das ist noch nass von meinen Haaren und ich stehe auf, ziehe mir ein T-Shirt an und gehe aus dem Zimmer und aus der Wohnung, meine Schuhe finden.





Schuhsuche
Die Sonne ist höher gestiegen, die immergrünen Rhododendronbüsche vor J's Haus leuchten jetzt stärker, weiss und rosa glühen die Blüten im Licht, hochgezüchtet, nutzlos und so giftig, dass zwei Handvoll Blätter einen umbringen können. Verlangsamung der Pulsfrequenz, Tod durch Herzversagen. Oder war es Atemstillstand? Keine Ahnung. Vielleicht meine ich auch Buchsbüsche. Aus den sauberen weissen Häusern, die die Strasse zieren, quillt der Geruch nach warmem Essen, die verschiedenen Düfte der verschiedenen Mahlzeiten in den verschiedenen Häusern überlagern sich, werden zu einem, ein Eintopf aus Fisch und Fleisch und Tomatensauce und Salzkartoffeln und Mais und Reis und Auberginen und Polenta und Gnocci und Tiefkühlpizza und schwarzen Karotten. Die ganze Strasse, das ganze Quartier muss beim Mittagessen sein, obwohl es schon nach zwölf ist. Einiges nach zwölf. Ich stehe immer noch vor den Büschen vor Js Haus. Ich könnte das Gartentor aufstossen, hineinspazieren, anklopfen und nach meinen Schuhen fragen, aber irgendwie will ich nicht mehr. Ich mag nicht ins Mittagessen platzen, und ich mag nicht mit J allein sprechen, ich weiss nicht, was ich zu ihm sagen soll, ausser 'Hast du meine Schuhe gesehen?', und irgendwie kommt mir der Satz, jetzt, da ich ihn so vor mich hin sage, ein wenig bescheuert vor, also drehe ich wieder um und schlendere durch die nach giftigen Büschen und Essen riechende Strasse zurück an die nächste Bushaltestelle. Noch bevor der Bus einfährt, vibriert mein Handy ganz unten in der Hosentasche, eine SMS von Una: 'Aila hat Geburtstag. Heute Abend bei ihr.' Keine Einladung, ein Befehl. Una mag mich nicht, ich weiss gar nicht, warum sie mich immer einlädt, ich glaube, sie hat Angst, dass meine Abwesenheit stärker auffallen könnte als ihre Anwesenheit. Bescheuert, aber so ist sie, gerne wäre sie Königin und hätte einen Hofstaat voller Lakaien. Aber dafür ist sie zu dumm. Aila hat heute Geburtstag, das wusste ich gar nicht. Weshalb sie wohl gestern nichts gesagt hat? Ich weiss nicht, ob der Gedanke an Party mir gefällt, vielleicht ja, aber trotzdem, ohne Tonna geh ich da nicht hin.