Freitag, 11. Oktober 2013

Quentin: Gedanken über den Schellenunder


Wenn ich an gestern denke, kommt mir als erstes die Erinnerung an Tonna, wie sie dasitzt und versucht, die Karten zu mischen. Sie fallen ihr herunter, sie lacht ein wenig dumm und nimmt sie wieder auf, kehrt die, die verkehrt herum liegen, wieder um und beginnt von Neuem zu mischen. Ein paar Leute sitzen herum, wir warten um irgendein dämliches Trinkspiel zu spielen. Irgendwann nehme ich Tonna die Karten aus der Hand, um selber zu mischen. Es sind Karten des deutschschweizer Jasskartensets. Zum ersten Mal in meinem Leben fallen mir die Figurenkarten auf, Under, Ober und Könige, und ich vergesse die Menschen um mich herum und nehme die Karten aus dem Set und ordne sie nach Symbolzugehörigkeit um mich herum an. Besonders eine Karte drängt sich mir auf. Er sieht anders aus, der Schellenunder. Anders als der Eichenunder mit dem traurigen Blick, anders als der übereifrige Schiltenunder mit seinem Brief in der ausgestreckten Hand und der Feder hinter dem Ohr, anders als der stolze Rosenunder, der seine Pfeife pafft, als wäre sie ein Statussymbol. Schelmisch lächelnd steht er da, blickt als Einziger mich an, die eine Augenbraue wie im Spott leicht hochgezogen, die Zigarette im Mundwinkel und ein Gebilde um den kreisrunden Kopf geschlungen, von dem ich nicht weiss, nicht wissen kann, ist es ein Hut oder eine Blume, eine Narrenkappe oder ein Fasnachtskostüm? Wer er wohl ist, der Schellenunder, der so anders ist als die anderen, so anders als alle anderen Karten im Spiel? Versteht er sich mit ihnen, mit den Königen, den Obern, den anderen Undern, oder gehört er gar nicht dazu? Er gehört nicht auf dieselbe Weise zum Spiel, wie sie zum Spiel gehören. Er gehört zum Spiel, aber nicht dem Spiel. Er ist mehr als ein Bild auf einer Karte, mehr als eine Figur im Rennen, mehr als eine Punktzahl auf dem Blatt. Er hat ein Leben, irgendwo ausserhalb der Ränder seiner weissen Karte, irgendwo dort, wo wir nur in den Träumen hingelangen, steht er da und lacht und küsst eine Frau.
'Spielen wir jetzt ein Trinkspiel oder nicht?', fragte irgendjemand, ich glaube, es war Häschen, wütend, weil er ohne Trinkspiele nicht weiss, wie er Spass haben soll. 'Quentin, gib die Karten her.' Ich wollte erst aufstehen und die Runde verlassen, aber dann dachte ich, was solls, zündete mir eine Zigarette an und schenkte mir von dem herumstehenden Whisky vierfingerbreit ein in mein Glas.

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