Freitag, 15. November 2013

Frosch: Schlusswort

Ich bin ein Frosch an einer Party. Es ist As Party. Es ist mehr ein Kinderfest als eine Party. Billigbier und Rotwein. Um mich herum sind Kinder. A. A. Q. T. U. P. F. H. Ich weiss nicht, was sie alle hier wollen. Irgendjemand soll Geburtstag haben. Ein Mädchen mit langem braunem Haar und überschminkten Smokeyeyes. A. Sie sieht nicht besonders glücklich aus. Alle anderen auch nicht. Sie sitzen im Wohnzimmer von As Haus im Kreis, in weichen schwarzen Sesseln, auf dem kalten Holzboden gegen die Wand gelehnt, auf Lederstühlen. Sie halten Gläser in ihren Händen oder auf den Knien abgestellt und malen mit den Handrücken Figuren in die Luft, während sie sprechen. Ein blondes Mädchen – F – sagt, sie hätte mit einem Typen geschlafen. Die anderen lachen spöttisch und machen ein paar Witze über F. F beginnt zu weinen. Ihre Schminke verschmiert ein bisschen. H und P gehen auf den Balkon rauchen, mit fahrigen Gesten suchen sie nach ihren Zigaretten und lachen laut, als sie sie anzünden. Durch den Spalt zwischen Tür und Türrahmen quillt etwas Rauch ins Zimmer. Zwei Mädchen gehen in die Küche, Tee machen. Sie haben rotes Haar. Natürlich und gefärbt. Die restlichen Kinder bleiben, zwei dunkelgekleidete Jungen fragen F, warum sie das gemacht habe, bei ihrem Ersten Mal. F meint, da ist doch nichts dabei, und er hat mich umarmt, danach. Der Junge mit dem kürzeren Haar – Q – beginnt zu fluchen. Der andere schweigt und kratzt sich mit den Fingernägeln über den Unterarm. Er hinterlässt rote Striche. Die Jungen vom Balkon kommen zurück. Sie riechen nach kaltem Rauch. Die Mädchen aus der Küche balancieren Teetassen in ihren Händen. Sie riechen nach Grüntee und nach Pfefferminz. Man will ein Trinkspiel spielen. Man spielt Ich-hab-noch-nie. A versucht, ihr langes Haar mit einem Bleistift zusammenzubinden. Q und T stehen auf und sagen, sie hätten keine Lust mehr auf Trinkspiele. Die Stimmung im Raum verändert sich, ausgehend von dem Mädchen mit dem rotgefärbten Haar. Sie wird etwas laut und sagt, sie würden sich benehmen, als seien sie sechzig und seit zehn Jahren blind und impotent. Das finden H und P lustig. Sie kichern hinter ihren mit Rotwein gefüllten Gläsern. Q sagt, werdet doch erwachsen. Er sagt es niemand bestimmtem, einfach so, in den Raum hinein. Er und T gehen. A und F sagen, dass sie auch keine Trinkspiele mehr spielen wollen. U versucht, ein Geräusch zu machen, als wäre sie eine Katze beim Erbrechen, aber es klingt nicht danach. Es klingt nach einem Katzenjungen, das sich noch in der ersten Nacht in den Vorgärten der Nachbarn verläuft und den Weg zurück nicht mehr findet.
A sagt, er würde auch nach Hause gehen. Er zieht seine Lederjacke an. Er sieht aus wie ein Schläger. F kommt mit ihm mit. Ich gehe auch mit. Sie passen nicht zueinander, als sie nebeneinander zur Bushaltestelle gehen. Er geht auf der Strasse, sie auf dem Bürgersteig. Ihr blondes Haar wippt auf und ab. Er erzählt ihr vom Fluss. Widerlich braun nennt er ihn und sagt, dass sie alle nur Widerliches gemacht hätten letzte Nacht. Als wolle er sie trösten. Er ist gut darin. Sie lächelt ein bisschen und fragt ihn, ob man sich weiterhin so treffen würde, in kalten Wohnzimmern und unter schimmligen Sonnenschirmen, und so tun, als ob man sich mögen würde. Er sagt, er hoffe es nicht. Ich hoffe es auch nicht. Ihr Bus kommt. Sie umarmen sich zum Abschied. Nicht fest. Nur ein wenig. Flüchtig streicht er mit seiner Hand über ihren Rücken. Er sieht zu, wie sie einsteigt und der Bus davonfährt und geht dann auch. Ich gehe zurück an die Party. A, H, U und P sind noch da. Sie spielen Trinkspiele. U, H und P lachen zehn Dezibel zu laut und tauschen Geschichten aus, die niemand hören will. A hat ihre Bierflasche heimlich mit Wasser gefüllt. Ich bin ein Frosch an einer Party. Die Party stirbt. Ich sterbe mit ihr. Sie haben mir Zigaretten zum Rauchen gegeben, und jetzt treibe ich mit dem aufgequollenen Bauch nach oben im Wasser und warte darauf, dass ich endlich untergehe.

Donnerstag, 14. November 2013

Fee: Muster auf Unterhosen

Abends sitze ich wieder im Bus, und ich trage frisches Make-Up und frische Unterwäsche. Ich habe heute die angezogen, die zuunterst in der Schublade lag, Unterhosen mit Blumenmuster in allen Farben, ziemlich kindisch, ich weiss nicht, warum ich die noch habe. Zuhause habe ich nur geschlafen und auf mein Handy gestarrt und auf mein Klavier, das so stumm ist, weil ich meine Finger nicht bewegen mag. Irgendwann hat Una mir dann geschrieben: 'Aila hat Geburtstag, kommst du auch?'

Ich steige aus und trete auf die saubere Quartierstrasse. Hallo meine Freunde, werde ich sagen, wenn ich bei Aila bin, und mich zu ihnen setzen, weil sie alle schon da sein werden, weil ich zu spät bin. Wir werden den Wein trinken, den ich am Kiosk vorher noch gekauft habe, Rosen sind auf der Etikette, er passt zu Aila, denke ich. So im Wohnzimmer sitzen und Wein trinken und über alles reden; dafür sind sie doch da, die Freunde, so habe ich das überall gesehen. Manchmal habe ich das Gefühl wir haben uns gar nichts zu sagen, und trotzdem treffen wir uns jeden Tag, sitzen fast jeden Tag im Park oder unter dem feuchtschimmligen Sonnenschirm bei Una zu Hause und trinken viel Bier, sodass wir uns irgendwann dann doch etwas zu sagen haben. Und am Ende, wenn die Busse am Bahnhof gegenüber weniger werden und der Mitternachtskiosk schliesst und die Fledermäuse unter dem gelborange gestreiften Kioskvordach hochflattern, sagen wir, es sei ein guter Abend gewesen, und gehen jeder seinen Weg nach Hause. Begleiten tun wir nie jemanden, auch wenn der Weg zum Bahnhof nur fünf Minuten länger wäre, wenn ich einen Teil davon mit Häschen gehen würde, der immer zu seiner Grossmutter schlafen geht. Aber das hat nie jemand vorgeschlagen, also hat es auch nie jemand getan.

Tonna: Gespräche mit Quentin


Ich putze mir gerade die Zähne, als es an der Tür klingelt. Ich höre mit den Bürstbewegungen auf und lausche, ob jemand aus meiner Familie zur Tür geht, um sie zu öffnen, aber es bleibt still, also spucke ich die Zahnpastasosse, die weiss ist mit kleinen hellblauen Pünktchen darin, in das Waschbecken, gebe die Zahnbürste von einer Hand in die andere, weiss nicht, wohin mit ihr, stecke sie der Einfachheit halber und auch, weil sie dort irgendwie hingehört, wieder zwischen meine Zähne und laufe zur Tür. Quentin sieht besser aus als gestern. Er hat sich die Haare gewaschen und frische Kleider angezogen, obwohl ich das eigentlich nicht sicher wissen kann, weil seine Haare trocken sind und er immer dieselbe Kleidung trägt, dunkle Jeans, dünner dunkler Pullover, schwarze Jacke darüber. 'Hallo Quentin', sage ich und nehme die Zahnbürste aus meinem Mund. 'Gut ausgenüchtert?'
'Bestens. Ist der Papagei nicht mehr hier?' 'Nein. Der ist schon seit Stunden fort.' 'Ah.' Quentin wippt ein wenig auf seinen Schuhsohlen vor und zurück. Er trägt seltsame Schuhe aus Leder, die irgendwie modisch aussehen und vorne spitz zulaufen und so gar nicht zu ihm passen wollen.
'Kommst du mit?', fragt er, als er genug gewippt hat.
'Wohin denn?' 'Zu Aila nach Hause. Hat dir Una keine SMS geschrieben?' 'Mein Handy ist aus.' 'Ach so. Aila hat Geburtstag. Anscheinend. Hat sie gesagt. Geschrieben. Wir sollen zu ihr. Kommst du mit?'
Wir gehen zu Fuss, Aila wohnt nicht weit von mir, zwanzig Minuten vielleicht, fünfundzwanzig, wenn ich mit Quentin gehe. Er läuft immer so langsam, als hätte er etwas hinter sich liegen lassen und könnte sich nicht entscheiden, ob er umdrehen und es holen soll oder nicht. Er schweigt ein bisschen, als wir nebeneinander herlaufen, und ich frage mich plötzlich, an wie viel von gestern Nacht er sich erinnert, und ob ich noch wütend auf ihn bin. Weil er mich mit dem Papagei im Stich gelassen hat und auch, weil er manchmal einfach ein Arschloch ist. Aber mich vor dem Papagei zu beschützen ist eigentlich nicht seine Aufgabe. Überhaupt bin ich nicht seine Aufgabe. Seine einzige Aufgabe, vor allem an einer Party, ist es, Spass zu haben. Aber das hat er, glaube ich, auch nicht allzu gut hingekriegt. Quentin bleibt stehen, zieht mit den Lippen eine Zigarette aus der Packung und zündet sie sich mit einem altrosa Feuerzeug an. Er nimmt den Rauch in den Mund und bläst ihn über seine rechte Schulter fort, damit ich ihn nicht atmen muss, aber das ist so etwas, das können auch nur Raucher glauben, dass das funktioniert, wenn sie den Rauch einfach fortblasen, ich rieche ihn natürlich trotzdem. Seine Zigaretten riechen besser als die vom Papagei. Quentin raucht und geht neben mir her und schweigt und sieht mich ab und zu an und scheint zu warten, dass ich etwas sage. Dass nicht er mit dem Plaudern beginnt, ist ein wenig seltsam, aber vielleicht ist ihm ja doch aufgefallen, dass er gestern nicht allzu feinfühlig war. Gestern war ich wütend auf ihn. Aber Gestern ist vorbei, und der Gedanke daran ist wie der Gedanke an eine matte Milchglasscheibe, ich finde nicht viel, zu dem ich Emotionen aufbringen könnte, ohne eine Heuchlerin zu sein. Die stärkste Erinnerung ist wohl die, dass da überall an den Wänden gerahmte Gedichte von Christian Morgenstern herumhingen, kleine schwarze Texte vor zu viel weissgebleichtem Papier, und ich bin rumgegangen und habe die alle gelesen. Ich habe Christian Morgenstern nie kennengelernt, aber seine Gedichte reichen völlig aus, um ihn stärker zu hassen, als ich je einen lebenden Menschen werde hassen können. 'Ich mag Christian Morgenstern nicht', sage ich also. 'Mehr als das, ich hasse ihn, und ganz besonders hasse ich seine Gedichte. Mir wird schlecht, wenn ich noch eins hören muss.' Quentin grinst. 'Es sass ein Wiesel...' 'Hör auf!' Ich schreie fast. Quentin wendet sein Gesicht ab, wahrscheinlich, weil er nicht will, dass ich ihn lachen sehe. Mit dem Handrücken wischt er sich das Lachen aus der unteren Gesichtshälfte und fragt mich dann, warum ich Christian Morgenstern denn nicht mag. 'Der ist doch lustig'.
'Nein', sage ich. 'Nein, ist er nicht. Er ist nicht lustig. Er ist kein bisschen lustig.'
'Vielleicht nicht.' Quentin wirft die halbgerauchte Zigarette auf den Asphalt und zertritt sie mit der Spitze seines Schuhs. 'Grässliche Schuhe', sagt er. 'Die gehören meinem Vater. Meine habe ich verloren.'
'Wo? An der Party?'
'Ich weiss nicht. Ich denke schon. Ich sollte weniger trinken, glaube ich.'
'Vielleicht. Ja.'
'Hm.' Quentin schweigt ein bisschen, als denke er an etwas Wichtiges. Er hebt die Arme, verschränkt sie hinter dem Kopf wie bei einer Dehnübung, lässt sie wieder fallen und vergräbt die Hände in den Jackentaschen. 'Ich würde gerne auf diese Parkbank sitzen und den Vögeln zuhören', sage ich, als er nichts mehr sagt, und zeige auf die Parkbank am Weg, hinter der der Wald beginnt. 'Ich auch', sagt Quentin, geht hin und wischt mit dem Ärmel seiner Jacke ein paar Ameisen von der Bank.
'Müssen wir nicht zu Aila?'
'Die vermissen uns doch sowieso nicht dort.'
'Du hast auf dem Tisch getanzt', sage ich, weil mir das gerade eingefallen ist und beginne bei der Erinnerung zu lachen. 'Zu was für einem Lied? Riff Raff?'
'Hardest Button to Button', sagt Quentin und nimmt sein Gesicht in beide Hände. 'Ich glaube, es war schrecklich. War es schrecklich?'
'Nein, es war nett. Es war wirklich nett. Una wäre fast gestorben vor Eifersucht.'
'Das habe ich noch mitbekommen', sagt Quentin und lacht ein wenig spöttisch, bevor er wieder leise wird. 'Das ist die letzte gute Erinnerung an diesen Abend', sagt er irgendwann. 'Die allerletzte. Wie der Tisch unter mir sich bewegt, wie Una sich bemüht, anderswo hinzusehen, wie du vor der Musikanlage am Boden sitzt und auf deinen IPod starrst.'
'Meine auch. Danach ist, glaube ich, nichts Gutes mehr passiert. An der ganzen Party.'
'Wir hätten nach Hause gehen sollen. Bevor sie das Lied umgeschaltet haben.' Quentin zündet sich eine nächste Zigarette an und verzieht das Gesicht. 'Das sind die widerlichsten Zigaretten, die ich je geraucht habe.' Seine Stimme ist rau vor Rauch. 'Klick-Zigaretten.' Er fuchtelt mit der Schachtel vor meinem Gesicht herum, als helfe mir das den Unterschied zwischen Klick- und richtigen Zigaretten zu verstehen.
'Wirf sie doch fort.'
'Hast du mit dem Papagei geschlafen?' Die Frage klingt seltsam, als Quentin sie stellt, und ich lache ihn aus. Er lehnt sich zurück, bis sein Rücken das Holz der Parkbanklehne berührt, dreht den Kopf in meine Richtung und bläst mir Rauch ins Gesicht. 'Hör auf damit', sage ich. 'Das ist fast so widerlich wie die Vorstellung, mit dem Papagei zu schlafen.' Quentin grinst ein bisschen und raucht selbstgefällig und schweigend seine Zigarette.
Wir sitzen noch eine Weile nebeneinander und hören den Vögeln zu, die hinter uns im Wald schreien, dem Wasser, das in den Brunnen plätschert. Als wir aufstehen, lässt Quentin die Zigaretten auf der Parkbank liegen. Das Feuerzeug auch.

Mittwoch, 13. November 2013

Aila: Gäste


Aila     Gestern, auf der Party, habe ich noch mit Häschen geredet.
Una     Der war noch ziemlich da, oder?
Aila     Ja, höchstens ein bisschen angetrunken.
Una     Heute morgen bin ich ihm begegnet. Am Fluss.
Aila     Du warst am Fluss?
Una    Ja. Ausnüchtern. Es war ganz schön, er hatte Heidelbeeren dabei.

Es klingelte an der Türe. Ich achtete für eine Weile nicht darauf, räumte nur die Kakaotassen ab und stellte sie in die Spüle.

Una     Du solltest wohl mal aufmachen.
Aila     Ja.
Una     Häschen hat mich geküsst, heute Morgen, meine ich. Am Fluss. Es war merkwürdig, hat gar nicht reingepasst.
Aila     Ja.
Una     Verstehst du, was ich meine? Ich mein, der Fluss war so schön träge und braun und mein Kopf tat weh und meine Lippen waren trocken, und da hat er mich einfach geküsst. Ich meine, Häschen, das hätte ich nicht von ihm gedacht.
Aila     Ich geh die Tür aufmachen.

Aila: Spielzeug


Um fünf läutet es an der Türe. Es ist Una. Sie sagt, alles Gute. Sie umarmt mich, sie drückt mich fest, es tut ein bisschen weh. Sie sagt, es tut mir leid, ich konnte dich gestern Abend nicht mehr finden, ich weiss nicht, ich habe dich überall gesucht. Ich sage, schon gut.

Una und ich trinken Kakao. Wir trinken immer Kakao, wenn wir zu zweit sind. Wenn wir mehr als wir zwei sind, trinken wir Bier. Das war irgendwie schon immer so.
Una fragt, wie wars bei dir gestern?

Aila     Ganz gut. Bei dir?
Una    Ja, war ne gute Party. Ich fands schön, dass wir in den Fluss gesprungen sind.
Aila     Lief da was zwischen dir und Adorno?
Una    Nein. War einfach ein schöner Moment.
Aila     Es ist seltsam, achtzehn zu sein.
Una    Ist ja nur eine Zahl.
Aila     Ich könnte mir jetzt Whiskey kaufen und ihn über das Bild kippen, das ich von dir gemalt habe.
Una    Darf ich das endlich mal sehen?
Aila     Lieber nicht. Früher hatte ich so eine Tafel. So eine aus Plastik, wo man draufschreiben oder -zeichnen kann mit einem auf der Seite an einer Schnur befestigten Stift. Mit einem Schieber konnte man das Gezeichnete wieder wegwischen. Irgendwie gefällt mir das besser als die Leinwand.
Una    Du bist süss, Aila.
Aila     Hattest du auch so ein Lieblingsspielzeug?
Una    Ich habe nur mit Holzsachen gespielt. Mein Vater hat die immer selbst geschnitzt, in seiner Werktstatt.

Ich glaube, als Kind hätten Una und ich uns nicht gemocht. Auf Partys mag ich Una immer noch nicht, weil ich sie ständig verliere, und weil ich mich nur auf den Balkonen wirklich wohlfühle, und das auch nur, wenn die Leute gerade alle drinnen sind, weil die White Stripes oder so laufen. Vielleicht ist das so, weil ich Una als Kind auch nicht gemocht hätte. Das würde heissen, auf Partys sind wir wie die Kinder, die wir mal waren.

Dienstag, 12. November 2013

Adorno: Halbschlaf


Una und Aila und ich sind gestern in den Fluss gesprungen, als es Nacht war und der Fluss nach ein paar Bier nicht mehr so schlimm und eklig aussah wie tagsüber. Ich weiss noch dass es irgendwie wehtat, wahrscheinlich bin ich schräg gesprungen oder so, und dass Una plötzlich nah war und Aila weg, und das war gut so, denn so konnte ich meine Hand eine Zeit lang auf Unas Hüfte lassen, eine schöne Hüfte. Später sind wir zurückgegangen, mir war etwas übel und es hat geregnet. Una sagte, ich solle besser schlafen gehen und mir was anziehen, sonst würde ich noch krank. Das war das Netteste, was jemand an diesem Abend zu mir gesagt hat.

Alle finden ja Una toll, und Una ist ja auch so eine ganz typische Heuchlerin, aber ich komme nicht umhin zu sagen dass Unas Augenbrauen, die so fein über ihren Wimpern liegen ihre Stimme, was sie sagt, dass ich sie von allen am meisten mag. Una habe ich über ihre Brüder kennen gelernt. Ich war mit ihren Brüdern auf einem Metal-Konzert, ich war damals oft mit ihnen unterwegs, das war gleich nach der Bezirksschule, sie waren nett zu mir. Ihre Brüder haben sie zu diesem Konzert mitgenommen. Una war da sehr betrunken und wir haben ein wenig geredet und noch mehr getrunken und nachher habe ich sie nach Hause gebracht, weil ihre Brüder mich mochten und mir vertrauten und weil sie noch länger bleiben wollten. Ich wollte mit Una schlafen, aber sie sagte, ich solle nach Hause gehen. Am nächsten Tag wusste sie nur noch, dass ich sie begleitet habe, und den Rest nicht mehr. Seither schreibt sie mir und ich gehe mit ihr und den anderen mit. Es ist nie die Gruppe, es sind immer Una und die anderen. Und wenn jemand Neues kommt, ist das wegen Una. Sie sagen dann: Ich gehe heute mit, mit Una und so.

Ich muss wieder eingeschlafen sein, ich weiss nicht wie lange, doch nach einer Weile vibriert mein Handy wieder. Es ist Una. Ich stelle das Bier im Gras ab, es kippt um und läuft Richtung Fluss davon. Der Papagei merkt es nicht, er ist auch eingeschlafen.
Aila hat Geburtstag.Willst du auch bei ihr vorbeischauen, so um acht?, hat sie geschrieben.

Ich lade den Papagei auch ein, ohne nachzudenken. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist schon Nachmittag. An keinem Tag vergeht die Zeit so sehr ohne eigenes Zutun wie am Tag nach der Party. Ich gehe nach Hause. Der Papagei bleibt.

Montag, 11. November 2013

Quentin: Schuhsuche


Die Sonne ist höher gestiegen, die immergrünen Rhododendronbüsche vor J's Haus leuchten jetzt stärker, weiss und rosa glühen die Blüten im Licht, hochgezüchtet, nutzlos und so giftig, dass zwei Handvoll Blätter einen umbringen können. Verlangsamung der Pulsfrequenz, Tod durch Herzversagen. Oder war es Atemstillstand? Keine Ahnung. Vielleicht meine ich auch Buchsbüsche. Aus den sauberen weissen Häusern, die die Strasse zieren, quillt der Geruch nach warmem Essen, die verschiedenen Düfte der verschiedenen Mahlzeiten in den verschiedenen Häusern überlagern sich, werden zu einem, ein Eintopf aus Fisch und Fleisch und Tomatensauce und Salzkartoffeln und Mais und Reis und Auberginen und Polenta und Gnocci und Tiefkühlpizza und schwarzen Karotten. Die ganze Strasse, das ganze Quartier muss beim Mittagessen sein, obwohl es schon nach zwölf ist. Einiges nach zwölf. Ich stehe immer noch vor den Büschen vor Js Haus. Ich könnte das Gartentor aufstossen, hineinspazieren, anklopfen und nach meinen Schuhen fragen, aber irgendwie will ich nicht mehr. Ich mag nicht ins Mittagessen platzen, und ich mag nicht mit J allein sprechen, ich weiss nicht, was ich zu ihm sagen soll, ausser 'Hast du meine Schuhe gesehen?', und irgendwie kommt mir der Satz, jetzt, da ich ihn so vor mich hin sage, ein wenig bescheuert vor, also drehe ich wieder um und schlendere durch die nach giftigen Büschen und Essen riechende Strasse zurück an die nächste Bushaltestelle. Noch bevor der Bus einfährt, vibriert mein Handy ganz unten in der Hosentasche, eine SMS von Una: 'Aila hat Geburtstag. Heute Abend bei ihr.' Keine Einladung, ein Befehl. Una mag mich nicht, ich weiss gar nicht, warum sie mich immer einlädt, ich glaube, sie hat Angst, dass meine Abwesenheit stärker auffallen könnte als ihre Anwesenheit. Bescheuert, aber so ist sie, gerne wäre sie Königin und hätte einen Hofstaat voller Lakaien. Aber dafür ist sie zu dumm. Aila hat heute Geburtstag, das wusste ich gar nicht. Weshalb sie wohl gestern nichts gesagt hat? Ich weiss nicht, ob der Gedanke an Party mir gefällt, vielleicht ja, aber trotzdem, ohne Tonna geh ich da nicht hin.

Tonna: Doors


Ich sitze in meinem Zimmer, in dem blauen, viel zu prall gefüllten Sitzsack, den mir mein Cousin vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hat. Ich habe mein Handy ausgeschaltet und mir mein Lieblingsbuch genommen und lese nun die Stelle, in welcher Atréju auf die Uralte Morla trifft, nur diese, wieder und wieder.

Mein Vater unten im Wohnzimmer hört Musik, mit dem Plattenspieler, glaube ich. Das höre ich daran, dass es immer nach ein paar Liedern eine Pause gibt, in der er die Platte wechselt oder umdreht. Er hört alte Lieder von den Doors. Irgendwann spielt der Plattenspieler Unhappy Girl. Das ist mein Lieblingslied. Aber ich glaube nicht, dass mein Vater das weiss. Ich glaube nicht einmal, dass er weiss, dass ich die Doors kenne. Mein Vater weiss nicht so viel von mir.

Einmal waren wir in Paris, mit der Schule, da gingen wir auf den Friedhof, dorthin wo der Grabstein von Jim Morrison steht. Da stand ein Mann, fünfzig vielleicht, sechzig, der mit seinem Handy Doors abspielte und auf Jim Morrisons Grabstein starrte und weinte, und ich dachte, es gibt nichts Traurigeres auf der ganzen Welt als ein Mann, der über den Tod eines Fremden weint, als hätte er ihn gekannt.

Sonntag, 10. November 2013

Una: Vor dem Schlaf


Jetzt will ich Aila schreiben. Oder am besten nicht Aila, sondern den anderen: Wir könnten sie überraschen. Ich stelle mir vor, wie ich Leute zu Aila einlade: der Papagei, der die Tequilaflasche in der Hand hochhebt und über den Balkon kotzt. Adorno, der sicher da übernachten würde. Adorno ist immer schon betrunken, wenn die ersten guten Lieder laufen, wenn die meisten Leute kommen, wenn die ersten interessanten Gespräche anfangen: Trotzdem ist er unverzichtbar. Er ist der Fixstern im Universum jeder Party, weil er immer in seinem Sessel sitzt und den Überblick zu haben scheint, und solange Adorno noch nicht auf dem Sofa pennt, ist die Party noch nicht vorbei.
Fee würde sicher Rotwein mitbringen. Oder Weisswein? Jedenfalls hat sie immer Wein dabei. Quentin würde entweder so betrunken sein wie gestern, oder er würde den ganzen Abend Wasser trinken und sich mit Tonna unterhalten.
Die Bilder passen überhaupt nicht zu Aila nach Hause, zu ihrem kleinen Zimmer mit der riesigen Leinwand, die ihr den Weg zur Türe verperrt, die sie aber absichtlich nicht in ein anderes Zimmer stellt – sie sagt, die Enge des Zimmers inspiriere sie. Ich glaube, sie will einfach, dass alle sehen, dass sie malt.
Die Bilder passen auch nicht zur hellen Küche, zu den Ayurveda-Kochbüchern und zur streunenden Katze, die Aila zähmen will, die aber immer vor ihr davonrennt. Von mir liess sie sich ein paar Mal streicheln.

Ich schreibe Adorno und Fee und Häschen. Und weil das so wenige sind, schreibe ich noch Quentin und Tonna. Nachher lege ich mich schlafen. Meine Katze klettert wieder auf mein Bett. Ich höre, wie meine Mutter unten Tee kocht. Der Moment vor dem Einschlafen ist immer simpel und schön, wie, wenn man noch ein Kind ist. In meinem Traum schwimme ich nochmal im Fluss, allein.

Aila: Teppichflusen


Ich stehe auf und gehe ins Bad und vor dem Spiegel denke ich: Ich sehe aus wie ein Typ, ich sollte mir mal wieder meine Augenbrauen zupfen; dann beginne ich an dem kleinen Hügel am linken Mundwinkel herumzukratzen, das Sonnenlicht durchs Fenster tut weh im Kopf, und ich frage mich, ob gestern wirklich zwei Sex hatten auf dem Klavier, Una hat nicht gewusst, wer es war, aber sie meinte, Adorno hätte es ihr gesagt, und der erfindet sowas nicht. Lehne mich zurück an die geflieste Badezimmerwand, ziehe mein Schlaf-T-Shirt aus; blasse Brüste und ich frage mich, wie das ist auf einem Klavier, ob man da den Deckel über den Tasten geschlossen hat und ob mich auch mal jemand an ein Klavier drücken wird. Wieso tun das eigentlich immer die Leute, von denen man es sowieso erwartet? Ich meine ich weiss nicht, wer es war, aber es war sicher ein Typ mit Karohemd, und es war sicher ein Mädchen mit kurzen Jeanshöschen, es gab so viele von denen dort, so viele, ich weiss gar nicht, woher J die alle kannte.
Ich ziehe meine Unterhose aus und werfe sie auf den Teppich und habe plötzlich Lust, auf die Flusen zu spucken. Doch dann wäre der Teppich einfach feucht, und selbst wenn ich nackt in den Garten stehen würde, würden meine Nachbarn einfach blöd dreinschauen und schlimmstenfalls ihren Sonnenschirm aufstellen, um mich nicht sehen zu müssen, selbst dann würde nichts Unerwartetes oder Aufregendes passieren, und alles war so vorhersehbar.

Una: Nach dem Tag


Ein Wort, das ich auch einmal auseinander genommen habe, war Nachtag. Ich weiss gar nicht, woher das Wort kommt, ob es das wirklich gibt oder ob es irgendjemand einmal konstruiert oder erfunden oder übernommen hat. Nach Tag, das heisst nach dem Tag, nach dem, was wir als Tag anschauen, und das ist die Nacht. Die Nacht ist der Hauptteil, und der Tag danach ist der unliebsame Rest, wie der letzte Schluck einer Flasche Bier, der schon schal ist und nach Spucke schmeckt. Der Tag danach macht einen gewiss, dass Bier, wenn es nicht vorher gekühlt und geschlossen gelagert wurde, eigentlich gar nicht gut ist. Der Nach-Tag, der selbst ein Tag sein will, aber keiner ist, da an ihm selbst sich nur noch die Denkprozesse vollziehen, und nichts ist schädlicher für Spass und Exzess als Denkprozesse. Sie zersetzen und zerfetzen alles Ästhetische und Erstrebenswerte: Jeden Flussmoment, jeden Balkonmoment, jeden Hinterzimmermoment.

Gestern gab es viele solche Momente: Adorno und ich im Fluss. Diese neuen Mädchen und Häschen und ich um den Sofatisch herum, Trinkspiele spielen, Quentin tanzt auf dem Tisch, aber keiner schaut zu ihm, und das stört ihn bestimmt. Das Heimgehen barfuss über den warmen Asphalt, allein. Und Häschen heute morgen – eigentlich war es ein netter Kuss. Für die paar Momente. Das Denken konnte schön im Gras versinken, oder im Fluss, oder in beidem.

Freitag, 8. November 2013

Una: Frei und radikal


Aila hat Geburtstag. Es fällt mir in dem Moment ein, in dem ich das Meersalz vom Gewürzregal nehme, um es auf das Weissbrot zu streuen, das schon etwas hart ist, aber ich habe einen Nachtag, und ich will Salz essen, am liebsten pur, aber ich habe irgendwo einmal gelesen, dass man stirbt davon.


Es ist Ailas achtzehnter Geburtstag, und ich habe die ganze Nacht nicht daran gedacht. Wir waren bei J und haben gefeiert, aber nicht sie, sondern, ja, was wir eigentlich gefeiert haben, weiss ich auch nicht. Ob ihr um zwölf jemand gratuliert hat? Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendjemand gewusst hat. Fee vielleicht. Nachdem wir zusammen in den Fluss gesprungen sind, ging Aila weg. Ich habe sie noch einmal gesehen: Sie stand an einer Türe. Ich habe, glaub ich, ein Glas Wasser mit ihr getrunken, in der Küche. Wenn ich mit Aila zusammen bin, spüre ich immer, was wir eigentlich alle sind, denn irgendwie hat sie so was Schwirrendes an sich, nicht, dass sie ständig verschwinden würde, im Gegenteil: Sie ist immer da; sie schwirrt um mich, um alle; sie schwirrt und setzt sich nicht nieder. Vielleicht tun wir das alle umeinander, doch bei ihr spüre ich es besonders, dieses Unfestsetzbare, während die anderen zumindest so tun, als wüssten sie, wo sich niedersetzen, wo sich hinlegen, wo mit wem welches Gespräch führen: Adorno in seinem Wohnzimmersessel; der Papagei vor der Toilette, weil dort die meisten Mädchen nicht damit rechnen, dumm angemacht zu werden, wenn sie sich gerade die Hände gewaschen haben; Fee auf dem Raucherbalkon, Häschen dort, wo sich gerade die meisten Leute ansammeln, Quentin und Tonna meist zusammen irgendwo am Rand, ausser wenn Quentin betrunken ist und auf dem Tisch tanzt, so wie gestern. Sie alle tun so, als wüssten sie, was ihr Platz ist und was man so macht an Partys. Dabei sind wir eher wie freie Radikale, zuckend und schwirrend bei Nacht. Tagsüber kleben wir in unseren Salzgittern fest und wollen nicht zugeben, dass wir uns da sicher fühlen. Wir wären alle gerne frei. Wir stünden alle gerne am staubigroten Strassenrand und warteten, bis der nächste Laster uns mit ans Meer nimmt. Und wir wären alle gerne radikal. Wir wären gerne die, die etwas Neues ausprobieren, die ersten Lederjackenträger oder Bebopspieler oder Pop-Up-Künstler. Aber alles, was wir tun, bleibt Imitation. Wenn wir am Strassenrand sitzen und Bier trinken, imitieren wir die verlorene Jugend bloss, denn wir hätten ja ein Zuhause, wo wir Bier trinken könnten. Dieses blosse Abbild einer Kultur lässt sie noch farbloser erscheinen. Wir imitieren Polaroidfotos. Selbst die Augenringe sind geschminkt. Unsere Eltern hatten schlechte Kameras. Wir haben Instagram.

Quentin: Fernsehen




Meine Haare sind nass und tropfen auf das Kopfkissen, der Stoff saugt das Wasser auf, wird feucht, wird nass, die Feuchtigkeit beginnt sich auszubreiten, kriecht meinen Nacken hinunter bis zu meinen Schulterblättern, will nach meinem T- Shirt greifen, aber ich trage kein T-Shirt.

Ich kann nicht schlafen. Die Sonne scheint auf den Balkon vor meinem Zimmer, die Bodenplatten reflektieren die Strahlen und werfen sie durch die verschmutzten Fensterscheiben in mein Zimmer, in dem sich die Hitze wie in einem Dampfkochtopf staut.

Ich stosse die Bettdecke vom Bett, als Knäuel bleibt sie auf dem Boden liegen. Ich habe die Zimmertür offengelassen und lausche darauf, dass jemand nach Hause kommt, aber niemand kommt, niemand macht die Wohnungstür auf, niemand ruft, 'hallo', ich bleibe allein.  

Ich greife nach der Fernbedienung, die auf dem Pult neben meinem Bett liegt und drücke auf den grossen roten Knopf. Der Fernseher gibt einen ekelhaft hohen Ton von sich, der in den Ohren beisst, bevor er sich einschaltet. Die Sonne scheint genau so auf den Bildschirm, dass alle Kontraste sich annähern, die klaren Umrisse verschwimmen, weil es zu hell ist, und man nur mit Mühe die Figuren im Fernseher sehen kann. Ich will einen Sender suchen, auf dem etwas läuft, das mir gefällt, aber ich sehe praktisch nie fern und kenne darum keinen einzigen Sender, also gebe ich wahllos ein paar Nummern ein.

Die ersten beiden Male kommt Mike Shiva, das dritte Mal eine Serie auf Französisch, das vierte und fünfte Mal eine Sendung, die mir irgendetwas verkaufen will und danach gebe ich es auf, irgendwelche Zahlen einzugeben und fange strukturiert von unten an und zappe mich dann hoch. Dreiundfünfzig Kanäle gibt es, bevor sich die Sendungen wiederholen, mit ein paar Ameisenbildschirmen dazwischen. Ich durchzappe die dreiundfünfzig Kanäle einmal und dann noch einmal, weil in der Zwischenzeit vielleicht die eine oder andere Sendung zu Ende gegangen sein könnte und etwas neues läuft, aber ich finde trotzdem nichts, was mir gefallen will.

Irgendwann entscheide ich mich für die Serie auf Französisch, die ich ganz am Anfang gefunden habe, aber ich habe den Sender vergessen und muss noch einmal alle Kanäle durchzappen, bis ich sie auf Nummer siebenundvierzig finde.

Ich lege die Fernbedienung weg und versuche, zu verstehen, um was es geht, aber die Serie ist schlecht synchronisiert, der Ton stimmt nicht mit den Mundbewegungen der Schauspieler überein, ausserdem knistert es irgendwie, und das verwirrt mich und dann ist mein Französisch auf einmal fort und ich verstehe nichts mehr ausser 'ma chérie' und 'merde'. Also konzentriere ich mich auf die Bilder.

Es gibt drei Frauen und drei Männer, die irgendwie zusammen in einer WG wohnen und sie sind alle hübsch und gutangezogen und heterosexuell und gehen zusammen auf Partys, auf denen sie die ganze Nacht feiern und um zwei Uhr morgens zusammen nach Hause gehen, nicht torkeln, und die Schminke der Frauen ist immer noch perfekt und kein bisschen verwischt und dann machen sie noch einen Abstecher zum Strand, der gerade um die Ecke ist, und die Frauen ziehen ihre Stöckelschuhe aus und spielen Fangen mit den Wellen und lachen und die Männer sitzen auf den Liegestühlen und rauchen und unterhalten sich über die Eroberungen der letzten Nacht. Nun ja, ich weiss nicht ganz, worüber sie sprechen, weil mein Französisch nicht mitkommt, aber sie sprechen ganz bestimmt über ihre Eroberungen der Nacht. Und dann kommt die eine Frau von den Wellen zurück und geht mit dem einen Mann fort, am Strand entlang spazieren. Die sind nämlich zusammen. Und es gibt einen kleinen Streit, es scheint, als wäre sie wütend, vielleicht wegen seiner Eroberungen, vielleicht hat er mit einer anderen Frau getanzt, keine Ahnung, das habe ich verpasst, ich kann die nicht ganz auseinanderhalten, die drei Männer. Sie klingt eifersüchtig oder traurig oder gereizt oder einfach nur müde, und dann versöhnen sie sich und er küsst sie und die Kamera zoomt weg von ihren Lippen, von ihren Gesichtern, zeigt den Strand, die Palmen dahinter, die Strandpromenade, die ersten Häuserreihen und die dahinter und die dahinter und das ganze Viertel und dann die ganze Stadt, hell und weiss und sauber, zu hell und weiss und sauber für drei Uhr nachts nach einem Partyabend, und ich mag irgendwie nicht mehr weiterschauen und schalte den Fernseher aus und es ist wieder still.

Plötzlich bereue ich es, die Bettdecke vom Bett gestossen zu haben, das Bett ist irgendwie zu gross für mich und ich umarme mein Kopfkissen, aber das ist noch nass von meinen Haaren und ich stehe auf, ziehe mir ein T-Shirt an und gehe aus dem Zimmer und aus der Wohnung, meine Schuhe finden.

Mittwoch, 6. November 2013

Aila: Sommerferien


Unas Zeit ist immer. Sie hätte die Schuhe ausgezogen, wäre sie gestern nach Hause gegangen.

Sie hätte den warmen Boden gespürt und nachher den anderen davon erzählt. Ich weiss zwar, dass der Boden warm ist, ich weiss, dass die Nacht schön und die Jugend verheissungsvoll ist, aber ich kann nichts davon spüren. Ich spüre nur, dass die Nächte schwarz sind und einsam und am Tag gibt es manchmal Kuchen, den ich dann auf meine Leinwand male oder an meine Wand pinne. Sonst gibt es hier nicht viel zu sehen.



Schon gar nicht mit achtzehn. Am achtzehnten Geburtstag, allein zuhause. Ich frage mich, was ich sonst hätte tun sollen. Ich stelle mir eine Party vor, Fee und Quentin und Tonna und Adorno und Häschen und der Papagei bei mir zu Hause. Ich hätte manchmal gerne mehr mit ihnen geredet, in den Sommerferien, dachte ich, würden wir uns bestimmt richtig kennen lernen. Aber an den Abenden im Park wusste ich den anderen nichts zu sagen, und am Ende des Abends war es nicht kühler als am Tag, und als die Schule wieder anfing, änderte sich auch nichts, ausser, dass ich meine alte Lederjacke wieder anzog und mich etwas rebellisch fühlte.



Ich denke manchmal, ich müsste aus der Jugend irgendwie schlau werden. Ich müsste irgendwelche Erkenntnisse ziehen aus dem, was geschieht: Aus den Leuten um mich herum, die One Night Stands haben und nachher erzählen, wie hässlich und aufregend es war; aus denen die Sexbeziehungen pflegen und sich dabei dauernd verarschen, oder denen, die echte Beziehungen führen und dabei gar nichts mehr machen. Ich habe all das gesehen, da muss doch jetzt irgendwann die Erkenntnis, der Punkt kommen, an dem ich daraus etwas lerne – Der Moment, in dem ich entscheide, zu heiraten, oder zum Raelismus zu konvertieren oder in ein Kloster zu ziehen oder unter die Warschauer Brücke in Berlin. Aber der Moment kommt nicht und ich stehe immer noch in meinem stickigen Kinderzimmer mit der niedrigen Decke, ich sehe und lausche und warte, bis mir selbst mal etwas passiert.

Una: Grüner Vorplatz


 

 
Ich wische den Vorplatz und küsse die Katze. Meine Mutter kommt hinaus, sie trinkt Grüntee am Plastiktischchen und trägt ihre moosgrüne Jacke. Meine Mutter sagt manchmal: Una, dir wird nie langweilig. Dabei weiss sie nicht, was ich mache, wenn ich auf meinem Zimmer bin. Manchmal schreibe ich Wörter hundertmal hintereinander auf eine Rolle Papier und sehe zu, wie sie sich verändern. Zum Beispiel Lebenserwartung: Wenn man das Wort auftrennt, heisst es Lebens Erwartung. Es hat fast wehgetan, als ich an meinem Schreibtisch sass und das lesen musste, was mir da nur durch das Absetzen des Stiftes einen halben Zentimeter weiter entgegensah: Des Lebens Erwartung. Vielleicht heisst das, die Erwartung des Lebens an uns. Oder unsere Erwartung an das Leben. Ich erwarte manchmal, dass es länger hell bleiben sollte draussen: Diesen Sommer ist es nie richtig hell geblieben. Als Kind kamen mir die Sommerabende ewig vor, weil ich da um zehn schlafen musste und es dann immer noch hell war. Als ich gestern auf der Party ankam, war es schon dunkel, und als wir in den Fluss gesprungen sind, auch, und als ich nach Hause ging, da war es immer noch dunkel, und ich musste daran denken, dass alles noch anders war, als Adorno mich hier einmal nach Hause gebracht hat, da waren wir fünfzehn, glaube ich.
 
 
 
 

Häschen: Beeren

Ich denke noch ein wenig über das Gespräch nach und rauche noch eine Zigarette, als ich durch die Stadt zurückgehe und Una treffe. Ich erinnere mich an das gute Gefühl im Traum mit ihr, mir fallen die Heidelbeeren in meiner Tasche ein und wir gehen zurück zum Fluss. Sie sagt, sie mag den Platz unter der Trauerweide.

Ich küsse Una an diesem Morgen. Ihre Lippen sind ziemlich hart und ganz anders als die von dem Mädchen gestern auf dem Klavier, dem Mädchen ohne Namen. Sie erzählt nachher irgendwas von Adorno, aber ich höre ihr kaum mehr zu. Ich gehe zu meiner Oma, schlafen. Die übrig gebliebenen Heidelbeeren bleiben am Fluss liegen.

Dienstag, 5. November 2013

Tonna: Gestern Nacht


Gestern Nacht, als ich mit dem Papagei nach Hause ging, liefen wir durch die Unterführung nahe am Fluss. Die eine Laterne war ausgegangen, und die andere Glühbirne von Spinnweben eingehüllt, Spinnweben, die erzitterten, wenn ihre Bewohnerinnen mit ihren Opfern kämpften. Metergross warf die Glühbirne die zuckenden Schatten der Spinnen auf den Boden. Die Wand darunter war grau, ein schmutziges, helles Grau, das Grau von plattgedrückten Kaugummis und frisch gereinigten Mauern.



'Sie haben die Graffitis weggemacht', sagte ich zum Papagei. 'Nicht übermalt, mit dem Hochdruckreiniger. Sie sind alle weg. Da, siehst du? Nur in den Rillen klebt noch die Farbe.' Ich strich mit dem Finger über Rillen, hoffte, die Farbe würde an meiner Haut kleben bleiben, aber das war lächerlich und ich hörte schnell wieder damit auf. 'Ich hab früher auch Graffitis gemalt, als ich sechzehn war. Graffitiking nannten sie mich. Nicht nur meine Freunde, das ganze Dorf. Die Bullen haben mir immer aufgelauert, um mich zu erwischen. Habens aber nie geschafft. Nur einmal, einmal...' Der Papagei schien ausnahmsweise zu bemerken, dass ihm niemand zuhörte, oder er wusste nicht, wie seine Geschichte weiterging, er hörte auf zu sprechen und begann, mich anzustarren.

Ich konnte seinen Blick in Nacken fühlen, aber ich beachtete ihn immer noch nicht. 'Ich hätte nie gedacht, dass sie diese Wand je sauber machen würden. Wie viele Menschen haben sie beschrieben? Wie viele Zeichnungen, Verewigungen waren hier? Wie viele Sätze sind verschwunden, verloren gegangen durch fünf Minuten mit dem Hochdruckreiniger?', fragte ich, obwohl ich wusste, dass der Papagei als Allerletzter eine Antwort darauf hatte.

'Keine Ahnung. Können wir jetzt gehen? Mir ist kalt.' Demonstrativ zog er die Schultern hoch bis in den Nacken.

'Mein Name stand mal hier', sagte ich. 'Meiner und acht andere. Benjamin. Raffael. David. Céline. Sandra. Gabriele. Marco. Miriam. Und meiner. Ungefähr hier.' Ich malte mit meinem Finger einen kleinen Kreis um die Stelle, wo die Namen gestanden hatten. 'Nicht als Graffiti. Mit Filzstift. Mit schwarzem Filzstift.'

'Weshalb hast du deinen Namen auf die Wand geschrieben?', fragte der Papagei.

'Nicht ich. Ich hatte eine Freundin, Ricarda, sie hat das gemacht.'

'Mh. Ich hatte mal was mit einer Ricarda. Vor etwa zwei Monaten. In einem Club. Fünf Männer standen um sie herum, wollten mit ihr tanzen, und dann bin ich hingegangen, gar nichts musste ich sagen, nur meinen Blick machen, du weisst ja, diesen Blick', der Papagei legte den Kopf ein wenig schief und starrte mich mit halb geöffnetem Mund durch seltsam zusammengekniffene Augen an - 'dem kann keine Frau widerstehen. Und auch kein Mann. Jedenfalls bin ich zu ihr hin, hab den Blick gemacht, sie sofort weg von den fünf Männern, zu mir hin. Getanzt haben wir. Was dann noch alles passiert ist, du willst es gar nicht wissen.' Der Papagei wartete einige Sekunden, um mir Zeit zu geben, ihn zu fragen, was dann noch alles passiert war, aber ich wollte es wirklich nicht wissen. 'Nun ja, vielleicht war es ja dieselbe Ricarda', sagte der Papagei schliesslich ein wenig enttäuscht, weil ich ihn nicht fragen wollte, was er alles mit dieser Ricarda gemacht hatte.

'Ich glaube nicht.'

'Vielleicht doch', insistierte er. 'Braunes Haar hatte sie.'

'Ricarda war blond.' 'Vielleicht hat sie es ja gefärbt.' 'Ich glaube nicht.' 'Warum nicht? Soll es geben. Ich habe mein Haar auch schon gefärbt. Mehrmals.' 'Ich glaube trotzdem nicht.' 'Warum nicht? Könnte doch sein.'

'Nein', sagte ich. 'Nein, es kann nicht sein. Sie lebt nicht mehr hier.'

'Wo lebt sie dann?', fragte der Papagei. Ich atmete ein wenig ein und aus, die Nachtluft war tatsächlich kalt geworden, biss in meiner Lunge, aber vielleicht war das auch nur der Rauch von der widerlichen Zigarette, die der Papagei neben mir im Stehen rauchte.

'Sie lebt überhaupt nicht mehr', sagte ich dann. 'Sie ist in den Fluss gefallen.'

'Oh.' Der Papagei schwieg einen Moment, hob dann die Stimme eine halbe Oktave höher als üblich und fragte: 'Gefallen?'

'Nein, nicht gefallen', sagte ich. 'Gesprungen. Man fällt nicht einfach so in den Fluss, wenn es Winter ist und schneit und man Kleider anhat, die sich mit fünf Grad kaltem Wasser vollsaugen werden und einen nach unten ziehen, noch bevor man Zeit hat, ein letztes Mal Luft zu holen.'

'Nein', gab mir der Papagei recht, 'nein, das tut man wirklich nicht.'

Montag, 4. November 2013

Fee: Busfahren


Im Bus sitzt eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Der Typ an der Haltestelle dreht sich um und geht weg, ich sehe noch, wie er zum Kiosk gegenüber geht, wahrscheinlich muss er Zigaretten kaufen, weil ich ihm gestern alle weggeraucht habe. Er dreht sich nicht noch einmal nach dem Bus um. Als der Bus aus dem Dorf hinausgefahren ist, fange ich an zu weinen. Das eine der zwei Kinder schaut mir zu. Das andere schläft an der Brust seiner Mutter.

Sonntag, 3. November 2013

Aila: Eigentlich rauchen wir alle nicht


Als ich zurück war vom Fluss, die Haare nass und stinkend und die Jeans, sie klebten in meinen Kniekehlen, und ich fror, da stand ich vor der Haustüre, wo niemand war, lehnte mich an und fragte mich, ob es immer und überall eine Person zu viel gab, die Übriggebliebene, die, der am Achtzehnten nicht gratuliert wurde, die Nebendarstellerin. Dann kam Häschen zur Tür hinaus. Häschen hat eine hübsche Art, irgendwo aufzutauchen, einen immer etwas verwunderten Blick und wirkt überall, als hätte man ihn gerade ins Bild geschnitten. Trotz der blauweissen Karohemden und Allstarschuhe und Shampoolocken wirkt er immer irgendwie weltfremd. Gestern Abend, als er durch diese Haustüre zu mir kam, tropfte ihm Bier von der Unterlippe, und er fuhr mit seiner Hand unschlüssig über meine Haar, eine schnelle, fahrlässige Bewegung, als wolle er Schmutz von mir abwischen. Nachher redeten wir, das ging ungefähr so:



Häschen       Wieso bist du so nass?

Aila               Ich bin von der Brücke gesprungen.

Häschen       Ohne Scheiss?

Aila               Ja.

Häschen       Einfach so? Ganz allein?

Aila               Mit Una und Adorno.

Häschen       Und wo hast du die gelassen?

Aila               Sind noch geblieben.

Häschen       Schade. Una wollte mir noch irgendein Lied zeigen. Sag mal, hast du ne Zigarette?
Aila               Nein. Ich rauche eigentlich nicht.

Häschen       Eigentlich rauchen wir alle nicht. Warte, ich geh uns zwei schnorren.



Als Häschen wieder reingegangen war, setzte ich mich auf den Vorplatzboden und schloss die Augen. Ich wäre gerne ins Koma gefallen, in diesem einen schönen Moment. Ich wollte in einem weissen Bett liegen, und viele Leute sollten darum herum stehen. Und alle sollten heulen.



Häschen       Hier.

Aila               Danke. Hast du auch Feuer?

Häschen       Ja.

Aila               Heute ist mein Geburtstag.



Ich ging mit Häschen zurück ins Wohnzimmer, ich holte mir noch etwas zu trinken, weil mir danach war, hinter dem Schleier zu verschwinden: Kerouac sagte, ihn interessierten nur die verrückten Menschen, die die ganze Nacht lang brennen, brennen, brennen. Er sagt das wirklich so, dreimal. Und wie sollte ich brennen, wenn ich dann schon nach Hause gegangen wäre – Häschen war plötzlich weg, dafür stand Una nach einer Weile vor mir, und sie fragte mich, ob ich auch schon gehört hätte, dass es im Zimmer nebenan gerade zwei auf dem Klavier trieben. Ich weiss nicht mehr, was wir noch geredet haben. Ich weiss, dass ich nachher wirklich nach Hause ging. Die Strasse war noch warm und ich dachte: Es wäre schön, jetzt barfuss zu gehen. Aber ich konnte mich nicht überwinden, meine Schuhe auszuziehen. Ich mochte mich nicht bücken und die Schnürsenkel auseinanderziehen. Ich schaute zum Waldrand, wo wir vorher aus dem Fluss geklettert waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass diese Blätter jemals wieder so grün sein würden wie am Tag.

Fee: Alt sein

Er geht mit mir zum Bus. Die kleinen Supermärkte sind jetzt offen. Männer mit Schürzen und dicken Bäuchen stehen davor. Auf den Betonspielplätzen vor den Häusern spielen Kinder. Ihre älteren Geschwister stehen daneben und mustern uns arrogant. Ich komme mir so alt vor. Wahrscheinlich denken sie, wir seien ein Paar. Als ich so zwölf, dreizehn war, sind mir die Achtzehnjährigen erwachsen und anständig vorgekommen, sogar, wenn sie an Familienfesten total betrunken Grossmutters Lieblingsvase vom Tisch gefegt haben, und sowas ist oft passiert. Sie waren erwachsen, egal, was sie taten. Ich stelle mir vor, wir wären ein Paar, ich und der Typ neben mir, ich weiss, wie er heisst, aber sein Name passt nicht zu ihm, als wäre dieser weit weg von ihm, als müsste er anonym bleiben, so wie er auf der Party anonym war und keiner wusste, wer ihn eigentlich eingeladen hatte.

Wenn die Jugend selbst sich gar nicht gut findet“, sage ich, als wir schon fast bei der Bushaltestelle sind, „wieso glauben wir es den Alten dann?“
Wahrscheinlich wollen wir es selbst glauben.“
Und wieso lassen wir uns von ihnen dermassen verarschen?“
Er küsst mich auf den Mund, der Bus kommt, und ich löse eine Fahrkarte, nach Hause.

Häschen: Es wird schon hell



Ich wache auf und erinnere mich, dass ich da mit Tonna geredet habe, auf diesem Balkon. Nachdem ich das Mädchen vom Klavier zur Bushaltestelle gebracht hatte, ihr grosser Bruder holte sie da ab, oder so. Wenn der wüsste. Ich hatte mich dann in irgendeinem Schlafzimmer, ich glaube, es war das von Js Eltern, jedenfalls hatte es einen Balkon, aufs Bett gelegt. Ich musste da eingeschlafen sein. Als ich aufwachte, merkte ich, dass Tonna auch im Zimmer war, sie sass auf einem Stuhl und schaute durch die Balkontüre nach draussen. Sie sah ziemlich durch aus, und ich glaube, ich sagte irgendwas zu ihr, ich weiss nicht mehr, was, jedenfalls fing Tonna darauf an zu weinen, so richtig zu weinen. Die Luft war grauweiss vom Rauch, obwohl J eigentlich mal gesagt hatte, man dürfe drinnen nicht rauchen. Bestimmt hat Quentin damit angefangen, der macht sowas immer absichtlich. Ich konnte Tonna nur schemenhaft erkennen; ich hörte sie wimmern und sah, wie sich ihre Schultern vor- und zurückbewegten. Ich ging zu ihr hin und nahm sie am Arm und zog sie auf den Balkon, da ich keine Lust hatte, mit ihr in diesem merkwürdigen Schlafzimmer mit der dunklen Tapete zu sitzen.

Tonna stellte sich ans Balkongeländer mit dem Rücken zum Zimmer, den Kopf in die linke Handfläche gestützt, als würde sie auf jemanden warten. Sie drehte einen Plastikbecher in der rechten Hand erst auf die eine, dann auf die anderen Seite und beobachtete, wie Reste eines orangefarbenen Mischgetränkes in den Rillen des Bechers ihre Kreise zogen. Danach redeten wir, die Worte sind noch da, aber die Bilder dazu schwinden, als wäre Tonna immer hinter dem Rauch versteckt gewesen.



Tonna           Es wird schon hell.

Häschen       Drinnen sieht man ja echt fast nix mehr.

Tonna           Schau dir den Himmel an.

Häschen       Ich hasse es, wenn die Sonne aufgeht, bevor ich schlafen gehe. Allgemein wenn die Sonne während der Party aufgeht. Sie gibt mir immer das Gefühl, das alles zu Ende ist.


Tonna           Oder dass es gerade wieder anfängt.

Häschen      Eben, es fängt schon wieder an. Auf genau dieselbe Art wie am Vortag wie am Vortag wie am Vortag. Die Nacht gibt dir das Gefühl, dass alles sich in diesen Stunden verändern kann und dass am nächsten Tag nichts mehr ist wie zuvor. Wenn du dann die Sonne auf genau dieselbe Weise aufgehen siehst, wie sie es alle Tage zuvor getan hat, macht das alles, was in der Nacht geschen ist, bedeutungslos.


Tonna           Wenn es nicht bedeutungslos wäre, würde es niemand tun. Wenn alles, was wir an Partys tun, irgendeine Bedeutung hätte, würden wir alle am Boden sitzen, uns anschweigen und Himbeeren essen.


Häschen       Was meinst du damit?

Tonna           An Partys ist doch alles scheissegal. Wieviel du trinkst, mit wem du was anfängst, wieviele Zigaretten du schnorrst und an wen du dein Gras verschenkst. Du musst nur Spass haben. Spass ist das oberste Gebot. Und wenn du keinen hast, dann gehörst du da nicht hin.



Häschen       Du hast keinen, oder?

Tonna           Was?
Häschen       Spass.

Tonna           Ich weiss nicht.

Häschen       Klang jedenfalls nicht so.

Tonna           Ich denke, ich hätte Spass, wenn ich mich jetzt auf dieses Geländer setzen würde.

Häschen       Du spinnst.



Tonna setzte sich aufs Geländer. Ich lehnte mich vorsichtig ein wenig darüber. Tonna sah nach unten zur terrakottafarbenen Regenrinne voller Laub und Zigarettenstummel. Ich stand noch eine Weile da. Dann ging ich rein und hob eine halbvolle Ginflasche vom Boden auf. Ich ging zurück auf den Balkon und setzte mich mit der Flasche neben Tonna aufs Geländer.