Adorno

Model: Pascal Kiechl
Alter: 19

Musik: Rammstein - Haifisch

Wie viel Bier: 8

Erstes Mal: Mit 18 auf einem Festival. Wenn Adorno darüber spricht, lächelt er immer ein wenig selbstverliebt. Er kann sich noch an ihre kleinen molligen Hände erinnern, und an ihr Piercing unter der linken Augenbraue.



Kastanien
In der Früh sehe ich den traurigen Jesus über mir und höre ernste Stimmen von draussen. Es ist so still bei J zu Hause, dass ich höre, wie die zwei Leute auf dem Balkon in den Redepausen an ihren Zigaretten ziehen und den Rauch in die Luft blasen. Eine weissgraue Spirale verflüchtigt sich ins Wohnzimmer. Ich drücke mein Gesicht in das kratzige Sofakissen.
'Als Kind war ich mit meiner Mama immer im gleichen Häuschen im Tessin.'
Rauch raus.
'Das war früher mal ein Häuschen, um Kastanien zu trocknen. Also total klein.'
Rauch rein.
'Wie klein?'
'Wenn man reinkommt, steht man in der Küche. Dort gibt es einen Herd und ein Tischchen mit zwei Stühlen. Die Stühle mussten wir rausstellen, um etwas kochen zu können. Bei Regen haben wir sie dann wieder reingeholt.'
'Klingt schön.'
'Es gibt eine kleine Treppe und ein Bett unter dem Dach. Man kann durchs Fenster den Himmel sehen, wenn man da liegt.'


Ich weiss nicht einmal, wer da draussen sitzt, ich kann ihre Stimmen nicht auseinander halten. Ich würde gerne noch mehr über das Kastanienhäuschen hören, aber wahrscheinlich hören sie auf, darüber zu reden, wenn ich auch nach draussen komme. Vielleicht sollte ich nach Hause, weiterschlafen.




Ich habe noch nie
Wenn ich an gestern denke, will ich kotzen, aber ich glaube, die Party war geil - so geil, wie so eine Party eben sein kann, mit den normalen Einsamkeits- und Brechreizgefühlen, wobei ich mich manchmal frage, ob andere die auch haben, diese Gefühle. Brechreiz nicht unbedingt vom Alkohol, Brechreiz mehr vom Dasitzen und zuschauen und Flaschen mit dem Feuerzeug öffnen bei jedem Trinkspiel dazustossen, dazusetzen, ich hatte noch nie Sex in der Schule, auf dem Klo, im Schlafzimmer der Eltern. Es kommt eigentlich nicht drauf an, wann man trinkt, ausser man ist der Einzige, der trinkt. Dann hat man was erreicht; Ruhm und Ehre wird einen zuteil, wenn sich plötzlich alle umdrehen und sagen: Krass, du hast schon mal…? Nach einem Ich-hab-noch-nie-Spiel setzen sich die Jungs zu dem Mädchen, das am meisten als Einzige getrunken hat. Häschen machte das gestern ganz gezielt: Nach dem Spiel hin zu dem Mädchen, das bei jeder vorgeschlagenen Stellung die Flasche hebt. Natürlich würde er das abstreiten. So wie alle alles abstreiten. Kantonsschüler sind die grössten Heuchler, die ich kenne. Das ist so ein Gefühl, das ich auf Partys kriege: Ich sitze da auf meinem Sessel und schaue auf den Balkon raus; ich sehe die Leute, die über Musik diskutieren und sagen: Ich habe die White Stripes schon immer geliebt und war auf unserer Schule immer der Einzige, der die hörte! Quentin ist so ein Exemplar. Er gibt sich furchtbar individuell, so mit Kappe und mit Parisienne Verte und so ein Scheiss, tanzt auf dem Tisch und gibt sich selbstvergessen, aber in der Bezirksschule, da stand er in der Raucherecke oder am Rand des Fussballplatzes und fragte süffisant den kleinen Jungen mit den Hochwasserhosen, wann er sich dann das letzte Mal die Haare gewaschen habe. Ich sehe die Leute pseudophilosophieren, höre sie sagen: Ich meine, mir ist scheissegal, wie sich jemand anzieht. Ich finde, man sollte immer ein bisschen rebellieren, egal, was man macht. Aber mit fünfzehn sassen sie in ihren Klassenzimmern und bewarfen das Mädchen in der vordersten Reihe mit vorgekauten Kaugummis.
Jetzt sagen sie, das sei Kinderkram und das hätten damals alle gemacht. Ich hole mir dann noch ein Bier. Sie sitzen alle in ihren Wohnzimmern und alternativen Bars mit Che-Guevara-Buttons auf ihren Jeansjacken und tun so, als hätten sie nie jemanden gedemütigt und getreten; jetzt sitzen sie zusammen und feiern das Anderssein.



 



Schuhe im Vorzimmer
Bei J zu Hause riecht es nach Käse. Das ist mir schon gestern aufgefallen, als ich um acht als Erster da war und ihm noch geholfen habe, das Bier aus dem Keller raufzutragen. Aber jetzt ist der Geruch wie Kleber auf der Haut. Sogar meine Tasche riecht nach Käse. Meine Füsse sind nackt. Auf dem Weg zum Badezimmer trete ich auf ein paar Chips, die kleinen Stücke bleiben an meinen Fersen kleben. Ich habe Lust, mich zu übergeben, aber mein Magen ist leer. Ich trinke einen Schluck Wasser und spucke ihn gleich wieder aus. Erst auf der Toilette merke ich, dass ich gar keine Hosen trage. Wo sind meine Hosen? Ich gehe zum Sofa zurück, sie liegen daneben auf dem Boden und riechen merkwürdig. Ich ziehe sie trotzdem an, tappe über den Flur und nehme meine Schuhe, es stehen nicht mehr so viele andere da wie gestern Nacht, noch ein paar Ballerinas und so was. Una trägt nie Ballerinas. Also hat sie nicht hier geschlafen. Leise schiebe ich die Türe auf, trete hinaus und ziehe sie hinter mir wieder zu. Das Chaos in dem Haus will ich nicht aufräumen. Ich habe ja schon beim Alktragen geholfen.

Die Luft ist feucht und kühl und in den Sträuchern links und rechts des Eingangs hängt schwerer Tau. Ich denke an Una. Meine Hose ist klebrig in den Kniekehlen; ich ekle mich vor mir selbst, vor dem käseriechenden Haus und vor den Rhododendronbüschen davor. Mit der Hand fahre ich durch die kleinen stacheligen Heckenblätter. Sie fühlen sich an wie Plastik.




Dosenbier
Im Bus schlafe ich ein, mein Handy vibriert und die Fensterscheibe neben mir auch, und ich kann nicht lange schlafen, schaue auf den Bildschirm: Komm runter zum Fluss. Es ist der Papagei.



Wo hast du eigentlich gepennt?, fragt mich der Papagei und reicht mir eine Dose Bier. Es ist zehn Uhr morgens. Meine Hose ist inzwischen trocken.

Bei J. Und du?

Hast es nicht mehr geschafft, hm? Ich war bei Tonna.

Ich nehme einen Schluck. Es ist lauwarm und mir wird halb schlecht davon. Aber vielleicht denke ich so weniger über gestern Abend nach. Der Papagei kann einen gut ablenken.

Und, ist was gelaufen?

Ne, quatsch. Du kennst ja Tonna. Die ist ein bisschen verklemmt. Gewollt hätte sie schon. Aber kennst mich ja. Ich nehm Rücksicht auf so was.

Auf was er Rücksicht nimmt oder inwiefern Tonna denn wollte, aber zu verklemmt war, ich gehe nicht darauf ein. Das muss ich auch nicht. Der einzige Grund, wieso der Papagei und ich befreundet sind: Ich frage genau so viel nach, wie er gerne erzählt. Ich lasse ihn in dem Licht stehen, in dem er sich selbst gerne sieht. Während ich weiss, dass er bei Tonna genauso chancenlos ist wie bei Una oder Aila oder Fee. Wobei, bei Fee vielleicht nicht völlig chancenlos. Aber Fee ist auch was anderes. Er dafür fragt mich nicht, wieso ich nach Pisse rieche oder bei Partys immer nur am gleichen Ort sitze und fast nie mit jemandem rede. Ich mag den Papagei dafür, dass er genauso scheisse ist, wie er sich gibt. Er ist wirklich der unsympathische Idiot, für den ihn alle halten. Deshalb lasse ich ihn in Ruhe und trinke sein ekliges Dosenbier. Besser, als zu duschen und schlafen zu gehen und irgendwie versuchen, mich auszuruhen. Das Schlimmste, was man nach Partys tun kann: Sich ausruhen. Dann beginnt man nur nachzudenken. Irgendwann merkt man, dass der Abend, der in der Morgendämmerung noch am Horizont schimmert wie ein fernes Abenteuer, das man durch die Dicke des Rauches versponnen erkennen kann, im Tageslicht betrachtet scheisse aussieht. An Partys passiert wenig Gutes. Leute tanzen auf Tischen, versuchen, einander abzuschleppen, betrunken zu machen oder zu demütigen, oder alles zusammen. Besser mit dem Papagei hiersitzen. Besser hier sitzen und Carl-Theodor-Bier trinken und so tun, als glaube man, dass Tonna auf den Papagei abfährt.





Wassernähe
Ich kann am Fluss nichts Schönes finden. Er liegt so konform in der Landschaft wie die Brücke darüber oder die Bonzenhäuser dahinter. Ich halte den Fluss nicht zu lange aus, schon gar nicht am Tag, wenn er eklig und braun ist und ich Angst davor habe, wenn ich am Flussufer sitze, dass er an meinen Füssen lecken und mich verseuchen könnte. Ich habe mich etwas auf den Rücken ins dreckige Gras gelegt, um den Fluss nicht mehr sehen zu müssen.



Halbschlaf
Una und Aila und ich sind gestern in den Fluss gesprungen, als es Nacht war und der Fluss nach ein paar Bier nicht mehr so schlimm und eklig aussah wie tagsüber. Ich weiss noch dass es irgendwie wehtat, wahrscheinlich bin ich schräg gesprungen oder so, und dass Una plötzlich nah war und Aila weg, und das war gut so, denn so konnte ich meine Hand eine Zeit lang auf Unas Hüfte lassen, eine schöne Hüfte. Später sind wir zurückgegangen, mir war etwas übel und es hat geregnet. Una sagte, ich solle besser schlafen gehen und mir was anziehen, sonst würde ich noch krank. Das war das Netteste, was jemand an diesem Abend zu mir gesagt hat.

Alle finden ja Una toll, und Una ist ja auch so eine ganz typische Heuchlerin, aber ich komme nicht umhin zu sagen dass Unas Augenbrauen, die so fein über ihren Wimpern liegen ihre Stimme, was sie sagt, dass ich sie von allen am meisten mag. Una habe ich über ihre Brüder kennen gelernt. Ich war mit ihren Brüdern auf einem Metal-Konzert, ich war damals oft mit ihnen unterwegs, das war gleich nach der Bezirksschule, sie waren nett zu mir. Ihre Brüder haben sie zu diesem Konzert mitgenommen. Una war da sehr betrunken und wir haben ein wenig geredet und noch mehr getrunken und nachher habe ich sie nach Hause gebracht, weil ihre Brüder mich mochten und mir vertrauten und weil sie noch länger bleiben wollten. Ich wollte mit Una schlafen, aber sie sagte, ich solle nach Hause gehen. Am nächsten Tag wusste sie nur noch, dass ich sie begleitet habe, und den Rest nicht mehr. Seither schreibt sie mir und ich gehe mit ihr und den anderen mit. Es ist nie die Gruppe, es sind immer Una und die anderen. Und wenn jemand Neues kommt, ist das wegen Una. Sie sagen dann: Ich gehe heute mit, mit Una und so.

Ich muss wieder eingeschlafen sein, ich weiss nicht wie lange, doch nach einer Weile vibriert mein Handy wieder. Es ist Una. Ich stelle das Bier im Gras ab, es kippt um und läuft Richtung Fluss davon. Der Papagei merkt es nicht, er ist auch eingeschlafen.
Aila hat Geburtstag.Willst du auch bei ihr vorbeischauen, so um acht?, hat sie geschrieben.

Ich lade den Papagei auch ein, ohne nachzudenken. Ich schaue auf meine Uhr. Es ist schon Nachmittag. An keinem Tag vergeht die Zeit so sehr ohne eigenes Zutun wie am Tag nach der Party. Ich gehe nach Hause. Der Papagei bleibt.