Donnerstag, 31. Oktober 2013

Una: Orangenmorgen


Ich wache auf, weil meine Katze mein Ohr leckt und es so warm wird in meinem Zimmer, dass ich meine feuchte Haut unter der Decke spüren kann, dass ich spüre, wie der Schweiss auf meinen Fingerspitzen sich mit dem Schweiss auf meinem Bauch vermischt. Ich schlage die Decke zurück. Die Katze legt eine Pfote auf meine Stirn. Gestern Nacht war alles kaltnass, mindestens von dem Punkt an, an dem das Wasser entzweibrach und mein Pink-Floyd-Shirt davontrieb auf dem Fluss, ich mich so schwer und betrunken fühlte im Wasser, so verloren – man sagt, die Nächte der Jugend sind unvergesslich, dabei ist der grösste Teil der Nächte schwarz und einsam. Die einsamsten Nächte sind diejenigen, die man in den Armen anderer Gestrandeter verbringt, vor allem, wenn man genau weiss, dass sie einem ebenfalls als Mitgestrandete und nicht mehr sehen.
Wie immer am Samstagmorgen kaufe ich im Laden zwei Strassen weiter Orangensaft und will mich damit auf den Balkon setzen und dämmern. Häschen läuft mir über den Weg. Ich mag das, wenn ich samstagmorgens in der Stadt zufällig Freunde treffe. Ich verabrede mich nicht gerne. Häschen und ich setzen uns an den Fluss und essen ein paar Heidelbeeren. Ich weiss nicht, wieso er Heidelbeeren dabei hat. Am Schluss küsst er mich. Ich erzähle ihm von Adorno und dem Fluss gestern Abend. Auf dem Heimweg fällt mir ein, dass ich noch den Orangensaft in meiner Tasche habe. Er ist warm geworden. Ich nehme ihn heraus und werfe ihn in die nächste Mülltonne.

Papagei: Doppelgänger


Mittwoch, 30. Oktober 2013

Tonna: Topfpflanze


Ich sitze in meinem Zimmer und trinke Mineralwasser aus einem Weinglas mit abgebrochenem Boden. Das Zimmer riecht noch nach dem Papagei, obwohl ich das Fenster schon geöffnet habe, bevor ich joggen ging. Ich schliesse die Augen, atme die Luft und erschrecke über den überraschend heftigen Hass gegen den Papagei, den die Spuren seiner Anwesenheit in mir auslösen. Ich kenne ihn nicht einmal richtig. Ich bin ungerecht. Er kann nichts dafür, wer er ist. Ich glaube, wenn ich ehrlich bin, dann hasse ich ihn gar nicht so sehr. Ich bin wütend auf Quentin, weil er mich weinen liess und weil er mich nicht angerufen hat, gestern nicht und auch heute nicht.

Aber Quentin zu hassen funktioniert auch nicht, weil wenn ich Quentin nicht mag, dann mag ich niemanden mehr. Ich würde gerne etwas umarmen, aber ich finde nichts zum Umarmen ausser der blöden Topfpflanze, die meine Mutter mir ins Zimmer gestellt hat, also nehme ich die auf meinen Schoss und halte sie fest, aber viel Liebe gibt sie mir auch nicht zurück.

Dienstag, 29. Oktober 2013

Quentin: Allein



Ich starre noch ein wenig den Tisch an, hoffe halb darauf, dass meine Familie nach Hause kommt, ein Nachbar klingelt, irgendjemand hereinspaziert und sich mit mir unterhalten will, aber es ist lächerlich offensichtlich, dass niemand kommen wird, also gehe ich in die Küche, mache mir eine Tasse Schwarztee mit Zitronenstücken darin und setze mich mit ihm und dem Schachbrett an den Tisch. Die Partie, die ich gegen meine jüngere Schwester gespielt habe, steht noch immer so, wie wir sie verlassen haben, schwarze Dame und schwarzer Turm bedrohen weissen König, Schachmatt, weisse Dame irgendwo rechts aussen, ein Zug, und der schwarze König wäre matt. Ich spiele immer mit schwarz, sie immer mit weiss.
 
Meine Schwester ist der einzige Mensch, der mich ab und zu im Schach schlägt. Einmal habe ich gegen Tonna verloren, aber das war Absicht. Sie hat nicht schlecht gespielt, aber ich hätte sie schon ganz zu Anfang mit vier Zügen matt setzen können, mit Bauernzug, Springer zwei Züge, Läufer nach vorne und matt. Der einfachste Schachtrick der Welt, und jeder Trottel fällt darauf herein. Es ist nicht so, dass ich besonders klug wäre oder besonders gut Schach spielen könnte, ich habe es nie irgendwo gelernt oder so, aber die meisten Menschen stellen sich einfach dumm an. Sie wollen gar nicht intelligent sein, sie wollen gar nicht nachdenken, es ist ihnen zu anstrengend, und sie haben vielleicht auch ein bisschen Angst vor dem, was ihre Gehirnwindungen möglicherweise produzieren könnten.


Ich habe die Bezirksschule ja gehasst. Genau deshalb, weil es irgendwie nur Idioten gibt, ganze Rudel von Idioten, und wenn man kein Idiot ist und das nicht gut genug verstecken kann, dann stehen sie im Kreis um dich herum und spucken dich an. Ich war keiner von denen, die angespuckt wurden, aber ich glaube, ich hätte es sein können. Dann wäre ich jetzt wie Adorno, ein überheblicher Junge, der in der Ecke auf einem Sofa sitzt und mit zynischer Miene warmes Billigbier trinkt und alle verachtet. Adorno und ich waren befreundet, in der Primarschule, bevor wir in die Bez kamen. Oder ich wäre tot wie diese Freundin von Tonna, die sie unten beim Schwimmbad aus dem Fluss gezogen haben.

Ich trinke Schwarztee, stelle die Schachfiguren gegeneinander auf und mache halbherzig ein paar Züge, aber gegen sich selbst zu spielen macht irgendwie noch weniger Spass als gegen einen Idioten zu spielen, ich nehme die weisse Dame vom Feld und versuche, sie in meinem Tee zu ertränken, aber sie ist aus Holz und schwimmt obenauf, also fische ich sie wieder heraus, stelle sie tropfend zurück auf ihren Platz und gehe duschen.
 
 

Montag, 28. Oktober 2013

Häschen: Trauerweide


Ich gehe jetzt an den Fluss, denke ich. Ich will über die letzte Nacht nachdenken. Es gibt eine Trauerweide am Fluss. Das wissen nur wenige, weil sie nicht so direkt am Fluss ist, nicht dort unter der Brücke, wo es immer nach Kotze und Bier riecht. Ein paar hundert Meter weiter, wo das Flussufer breiter ist und nicht gleich die Bonzenhäuser dran grenzen. Meine Oma gibt mir eine Schachtel Heidelbeeren mit. Ich ziehe meine Schuhe an. Eine Jacke brauche ich nicht, draussen ist es warm.

Unter der Trauerweide stecke ich mir eine Lucky Strike an. Das Gras kitzelt im Nacken. Der braune, schmutzige Fluss schleppt den trägen Vormittag an mir vorbei. Ich denke an das Mädchen von gestern: An ihre Beine in den kurzen Hosen, an ihr Lächeln, das ein bisschen arrogant war. Ich kann mich gut an ihre Schlüsselbeine erinnern: Die Schatten, die sie warfen. Ich weiss nicht mehr, wie ihre Stimme klang, aber ich kann es mir gut vorstellen.

Seltsamerweise träume ich von Una, als kurz darauf die Blätterschatten über mir mit dem Himmel über ihnen verschwimmen und die Geräusche vom Fluss mit der vorgestellten Stimme des Mädchens auf dem Klavier. Ich weiss nicht genau, was ich träume, aber es spielt sich auf dem Balkon von Js Haus ab, dem Schlafzimmer-, nicht dem Wohnzimmerbalkon.

Sonntag, 27. Oktober 2013

Aila: Über Wasser


Kommst du auch, wir springen von der Brücke, fragte Una mich gestern Abend, flüchtig, an meiner Schulter vorbei, wie ich so in der Ecke des Balkons stand und den Filter meiner Zigarette rauchte. Js Party war da schon fortgeschritten gewesen, und ich hatte Una längst dreimal verloren und dreimal wieder gefunden. Sie trug eines ihrer Bandshirts von irgendwem und stand meist in einer Gruppe Menschen und lachte und unterhielt sich über Bands und T-Shirts, die ich nicht kenne. Ich kenne mich schlecht aus in Musik. Zum Malen höre ich immer Adam Lambert. Aber das weiss keiner. Ja klar, sagte ich, drückte endlich meine Zigarette aus und folgte ihr ins Haus und die alte Treppe runter.

Als wir am Fluss standen, Adorno war auch mitgekommen, aber er schlurfte irgendwo hinterher, lehnte Una sich leicht übers Geländer, sodass die Stange ihre Brüste hochdrückte. Der Fluss spiegelt die Sterne, sagte Una und zog ihr Oberteil aus, als wolle er unsere Realität in Frage stellen. Adorno sah sie von der Seite her an. Dann setzte sie sich aufs Geländer und liess die Beine über dem Wasser baumeln. Ich zog mein T-Shirt ebenfalls aus, dann merkte ich, dass ich einen hautfarbenen BH trug, und ich fragte mich, ob das jetzt sexy ist oder nicht.

Als ich ins Wasser eintauchte, als ich merkte, wie der Stoff meiner Jeans mich nach unten zog, als ich merkte, wie schwarz alles unter Wasser war und wie hell darüber, war die Nacht für einen Moment unterbrochen und schön. Ich lag in den Sternen. Ich bewegte meine Beine, um nicht unterzugehen. Im Wasser war mein Körper blass und leicht.
Una und Adorno schwammen ein Stück links von mir. Ich schwamm zu ihnen hinüber, sagte zu Una: Du hattest recht, es war echt geil. Sie nickte. Sagte ich's doch. Sie stützte sich auf Adornos Schulter ab. Sie sahen beide so schön aus vor der Waldkulisse, wie auf einem Plattencover, wie sie leicht frierend in die Ferne schauten. Es war ein Bild, das man am liebsten zwischen seinen Fingern zerreissen will, oder noch besser zerreiben, wie Sand, ohne Überreste. Aber stattdessen versuchte ich nebenan, mich über Wasser zu halten, und fror, und niemand auf der Welt hatte bemerkt, dass zwölf gerade vorbei war. Gehen wir langsam – begann ich.
Pscht, machte Una und wischte sich das Wasser aus den Augen. Ich will den Fluss hören.
Adorno sagte nichts. Er hatte die Hand auf Unas Taille gelegt und zog sie jetzt enger an sich.

Samstag, 26. Oktober 2013

Adorno: Wassernähe

Ich kann am Fluss nichts Schönes finden. Er liegt so konform in der Landschaft wie die Brücke darüber oder die Bonzenhäuser dahinter. Ich halte den Fluss nicht zu lange aus, schon gar nicht am Tag, wenn er eklig und braun ist und ich Angst davor habe, wenn ich am Flussufer sitze, dass er an meinen Füssen lecken und mich verseuchen könnte. Ich habe mich etwas auf den Rücken ins dreckige Gras gelegt, um den Fluss nicht mehr sehen zu müssen.

Freitag, 25. Oktober 2013

Quentin: Zuhause



Zuhause ist niemand. Die Tür ist verschlossen, die Schuhe sind fort, Frühstücksgeschirr steht auf dem Tisch herum. Benutzte Teller, Messer, Löffel, Kaffeetassen mit braunem Boden, halbvolle Nutellagläser, Orangensaft, Milch, Cornflakes, Brotkrümel auf dem Tisch und zurückgeschobene Stühle. Als wären sie alle gerade eben aufgestanden und ohne einen Blick zurück aus der Wohnung spaziert. Wohin sind sie gegangen? Warum haben sie nicht aufgeräumt? Seltsam. Es ist nicht, was sie normalerweise tun. Vielleicht waren sie eingeladen und zu spät dran. Vielleicht habe ich etwas verpasst. Ganz bestimmt habe ich etwas verpasst. Ich stelle mir vor, wie sie alle, meine Familie, meine Mutter, mein Vater, meine Brüder und Schwestern im Auto sitzen wie auf einem Werbefoto für ein Familienprodukt und irgendwohin fahren, zu einem Fest vielleicht, zu einer Party, zu Fröhlichkeit und Spass und ich komme mir plötzlich einsam vor, alleingelassen, zurückgelassen, der letzte Mensch im Universum. 

Tonna: Menschen mit Hüten


Ich laufe auf einem Weg zwischen Bäumen, im Wald, durch das Blätterdach tropft schräg die Sonne, der Waldboden mit den fleckenartigen Lichttupfen hat das Aussehen eines zu gross geratenen, durcheinander geschüttelten Schachfeldes. Durch den Mergel auf dem Kiesweg quellen die Pflanzen, Gras wächst von beiden Seiten auf die Mitte zu, nur auf einem zweihandbreiten Streifen sieht man noch ein Stückchen Weg. Auf diesem Stückchen Weg renne ich, unter Bäumen, unter Ästen, unter Rinde und Blättern und kreischenden Vögeln hindurch.

Ein verschwitzter Jogger in gelbem ärmellosen Shirt kommt mir entgegen, ein Mann mit Walkingstöcken, eine Dame mit Dalmatiner und Hut. Menschen mit Hüten sehen immer ein wenig seltsam aus, ein bisschen antik, als wären sie aus Modezeitschriften aus dem vergangenen Jahrhundert hinaus spaziert und könnten den Rückweg nicht mehr finden.
 



Häschen hatte einen Hut an, gestern. Nicht von Anfang an, er hatte den irgendwo gefunden, in der Garderobe oder im Kleiderschrank von Js Vater. Er sah damit nicht gut aus, obwohl er das wahrscheinlich dachte. Ich hätte ihm gerne gesagt, er solle ihn doch ausziehen, aber es kam mir irgendwie nicht richtig vor, weil er so nett zu mir war. Quentin hätte es ihm gesagt. Aber Quentin ist manchmal auch ein Arschloch. Vor allem, wenn er getrunken hat. Als ich gestern irgendwann in der Nacht mit ihm in diesem Zimmer war, gegen Ende der Party, bevor Häschen seinen Hut anzog und bevor der Papagei sich auf mich stürzte, und ich Quentin erzählte, wie einsam ich sei, da ist er nur dagesessen und hat in die Dunkelheit geatmet. Obwohl wir allein waren und obwohl er hören musste, dass ich weinte. Er hätte mir helfen können. Er hätte mich trösten können. Er hätte mich umarmen können, mir einen Witz erzählen, irgendetwas. Aber er sass nur da und war still, als wäre er vor Langeweile eingeschlafen, und da bin ich aufgestanden und aus dem kleinen Gästezimmer hinunter in das Wohnzimmer gegangen und habe die Bilder an den Wänden angestarrt, kubistische Malereien und aufgehängte Gedichte von Christian Morgenstern. 


Irgendwann, als ich die blöden Gedichte schon auswendig konnte, bin ich in das Nebenzimmer rein, da lag Häschen auf dem weissen Bett, als würde er schlafen. Er setzte sich auf, als ich eintrat, und fragte mich, warum ich denn so scheisse aussähe. Das hat er wirklich so gesagt, Tonna, warum siehst du denn so scheisse aus. Häschen kennt da nichts. Da habe ich wieder zu weinen begonnen und er hat meinen Arm gepackt und ist mit mir auf den Balkon gegangen, da sassen wir und haben geredet, bis Häschen keinen Gin mehr hatte und ich nach Hause wollte und den Papagei vor der Tür treffen durfte. Ich war so verzweifelt, als sich der Papagei bei mir einhängte, und ich wollte Quentin noch eine Chance geben, mir zu helfen, und ich wusste auch nicht, wen ich sonst um Hilfe bitten sollte, also habe ich ihm geschrieben, weil er irgendwie nirgends mehr zu sehen war, er solle doch kommen und mich vor dem Papagei retten. Aber er hat nicht zurückgeschrieben, wahrscheinlich war es ihm egal. Also habe ich den Papagei mitgenommen. Einen Augenblick lang habe ich mir sogar überlegt, ob ich nicht mit ihm schlafen sollte, aber das war mir dann doch zu widerlich, das hätte ich nicht ertragen können. Und ausserdem hätte es Quentin sowieso nicht gekümmert, er hätte nur eine Augenbraue hochgezogen und gesagt: Ach. Oder mich ausgelacht, eher.

Eine durch und durch absurde Idee, also.

Donnerstag, 24. Oktober 2013

Häschen: Neue Mädchen


In diesen Nächten in den Sommerferien hörte ich beim Nachhausefahren The Moody Blues. Wenn ich zu blau war oder es so spät war, dass keine Busse mehr fuhren, spazierte ich zur Wohnung meiner Oma, die in der Stadt wohnte. In keiner dieser Nächte hat sich etwas verändert, und wenn ich auf die Sommerferien zurückblicke, waren sie doch alles in allem ziemlich unnötig. Das Leben zog sich wie die Fäden von eingetrocknetem Weissleim. Die Minuten vor dem Gehen waren immer die Aufregendsten.

Gestern, bei J, waren ein paar neue Mädchen da, alle hübsch und einförmig, die Art Mädchen, neben denen Una aussieht wie eine ägyptische Göttin, neben denen Aila untergeht und Fee gar nicht erst wahrgenommen wird, weil sie Ballerinas und keine DocMartens trägt. Ich mag diese Mädchen eigentlich ganz gern, die sich im Sommer originell fühlen, weil sie an Metalopenairs gehen und ausgefranste Hotpants tragen, die so kurz sind, dass man von unten mit der Hand hineinfassen kann. So denke ich mir das jedenfalls, und ich glaube, die Mädchen wissen das auch, sonst würden sie sie nicht anziehen.

Ich trage die leere Kaffeetasse in die Küche. Dort steht meine Grossmutter und füttert ihre Katze und sie fragt mich, ob ich einen schönen Abend gehabt habe. Ich sage ja.
Für einen Moment war alles ganz einfach, und ich half dem Mädchen beim Ausziehen, öffnete mit der Rechten den Verschluss ihres BHs und hob sie mit der Linken etwas an, damit sie sich aufs Klavier setzte, also auf den Deckel der Tastatur, der unten war, versteht sich. Die Tür war abgeschlossen, und die Höhe des Deckels stimmte auch, ich hatte das bedacht, und wie sie so vor mir sass war sie eigentlich auch ganz hübsch, vor allem ihre Schultern, ich weiss ja nicht wieso, aber ich mag Mädchenschultern sehr.

Vorher habe ich noch mit Aila geredet. Das zeigte irgendwie, dass ich ziemlich verzweifelt war. Eigentlich ist Aila in Ordnung, aber sie ist so ein Mädchen mit bodenlangen Blumenkleidern, die ganz übel aussehen an ihr, und richtig alten Lederjacken, die so alt sind, dass sie eben schon nicht mehr cool aussehen. Zudem betont sie immer, wie viel sie von Kunst versteht, und die Geschichte von Vincent Van Gogh und seinem abgeschnittenen Ohr, und was dieses abgeschnittene Ohr für eine Symbolik beinhaltet, habe ich mir in ihrer Gegenwart schon zweihundertmal anhören müssen. Sie ist individuell, aber auf eine mühsame Art. Zum Glück war ich nicht mit ihr auf der Bezirksschule. Bestimmt sass sie in der ersten Reihe und kaute nie Kaugummi während des Unterrichts. So ist sie.

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Aila: Achtzehn


Ich bin jetzt achtzehn. Das Sonnenlicht scheuert gegen die schweren dunkelblauen Vorhänge. Sie saugen es auf und geben ein wenig davon in mein Zimmer ab. Die Decke ist niedrig. Manchmal stosse ich mir meinen Kopf an der Lampe. Ich bleibe noch ein wenig unter der Bettdecke liegen und rieche an einer meiner Haarsträhnen. Sie riecht nach Flusswasser, und nach Rauch, und nach der Wärme, die sich im Schlaf zwischen Körper und Stoff ausbreitet und immer ein bisschen schmutzig und abgestanden ist.

Dienstag, 22. Oktober 2013

Quentin: Braun


Ich gehe nun doch nach Hause. Ich habe mir an einem Stand, der wie Brezelkönig aussieht und auch Brezeln verkauft, aber kein Brezelkönig ist, einen Becher heissen Milchkaffee gekauft und mir die Zunge daran pelzig gebrannt. Ich laufe eine Strasse entlang. Beim Gehen sehe ich zu Boden, weil meine Füsse seltsam aussehen ohne die Schuhe. Kleiner irgendwie, verletzlicher. Und dreckiger, die Socken sind dunkelbraun vor Schmutz, von dem ich nicht weiss, seit wann er dort hängt, er könnte von überall sein. Braun ist meine Lieblingsfarbe. Die Farbe Braun ist in der Farbskala der Farbenlehre nicht vorhanden, da sie keine eigenständige Farbe ist, sondern eine gebrochene. Braun entsteht, wenn eine warme Farbe zwischen gelb und rot mit schwarz abgedunkelt wird und die Helligkeit unter fünfzig Prozent liegt. Wo sind überhaupt meine Schuhe? Ich kann mich nicht daran erinnern, sie ausgezogen zu haben, bevor ich schlafen ging. Aber ich kann mich auch nicht daran erinnern, wie ich schlafen ging, oder wie ich die Party verlassen habe, oder warum ich es nicht bis nach Hause schaffte, also ist das nicht sonderlich erstaunlich. Ob sie kaputt gegangen sind? Gestohlen wurden? Verloren gingen? Ob ich sie an der Party gelassen habe? Vergessen habe, sie anzuziehen? Ich glaube, ich sollte sie suchen gehen, wenn ich ausgeschlafen bin. Scheussliche Gesichter auf der Strasse, vor den Läden. Alle Menschen sehen scheusslich aus, wohl auch ich. Es gibt kein einziges schönes Gesicht auf der Welt, es gibt niemanden, der unter Deodorant und frisch riechendem Duschgel nicht nach erkalteten Körperflüssigkeiten und abgestorbenen Hautzellen stinkt, nach alter Butter, nach Käse an einem warmen Tag. Ich nehme aus Gedanken auftauchend den Becher in meiner Hand wahr und trinke einen Schluck, trotz meiner verbrannten Zunge schmecke ich die Milch unter dem Kaffee, und mir wird plötzlich übel davon und ich werfe den Becher in den Mülleimer fort.

Montag, 21. Oktober 2013

Häschen: Hemd mit Muster


Ich war nicht betrunken gestern Nacht, aber die Welt spannte sich vor mir auf wie ein bedrucktes Tuch mit verworrenen Mustern und Farben, die man nicht einordnen kann. Die Abende in den Sommerferien sind bisher ineinander gelaufen: Ich ging aus dem Haus, denke: Heute passiert was. Ich habe immer so ein blauweiss kariertes Hemd getragen. Das habe ich mir irgendwann während der letzten Prüfungen gekauft, als wir mal nach der Schule in die Stadt gingen und Fee noch Unterwäsche kaufen wollte. Sie wollte das bestimmt, damit die anderen Männer, also Adorno und der Papagei und Quentin, sie sich nachher in dieser Unterwäsche vorstellten. Ich glaube, Fee mag die Vorstellung, dass sich jemand wegen ihr einen runterholt.

Da habe ich mir jedenfalls, während die anderen vor dem Unterwäscheregal standen, in der Männerabteilung dieses Hemd gekauft. Es roch nach Sommer, nach Freiheit, nach am Konzert in der ersten Reihe stehen. Das habe ich mir während der Prüfungen immer vorgestellt: Dass ich diesen Sommer an irgendeinem Konzert in der ersten Reihe stehen werde. Ich hatte nie eine genaue Vorstellung, was für eines das sein konnte. Obwohl wir den ganzen Sommer oft über Konzerte und Musik und Festivals gesprochen haben und wer wo auftritt und welche Künstler gut und welche scheisse sind, fällt mir jetzt, im Rückblick, ein, dass ich auf keinem einzigen Konzert war. Das Hemd war immer Verheissung, leere Verheissung für einen Abend, an dem wir am Schluss doch nur im Park sassen und nichts passierte. Ich glaube, die anderen störte das nicht so wie mich. Adorno war froh, dass überhaupt jemand ihn dabei haben wollte. Una machte die Konversation mit der ganzen Gruppe, indem sie Bemerkungen über Bäume, Wolkenmuster oder die verkommene Gesellschaft fallen liess, wobei Adorno ihr an den Lippen hing. Aila hing gedankenverloren an ihrer Bierflasche, brauchte lächerlich lange, um sie leer zu trinken, und versuchte gar nicht erst, witzig zu sein; und Fee, ja, Fee wartete wohl auch auf etwas. Sie kam nicht jeden Abend mit, als wollte sie sich dadurch rar machen, und einmal sahen wir sie mit irgendeinem Typen in einer dieser abstossend gepflegten Bars in der Nähe des Bahnhofes sitzen, und der Typ war auch ganz abstossend gepflegt. Seither kann ich Fee noch weniger ernst nehmen als vorher, und den anderen geht es, glaube ich, ähnlich.
Der Papagei verschwand meist um halb zwölf und meinte, ein Kumpel habe ihm gerade noch geschrieben, er nehme den Achtunddreissiger in die andere Stadt, wo mehr abgehe als hier bei uns. Das betonte er immer: Den Achtunddreissiger in die andere Stadt, als mache ihn die Angabe der Abfahrtszeit des Schnellzuges glaubwürdiger. Wir kicherten dann ein wenig und machten ein paar Sprüche über den Papagei, aber irgendwann waren wir es leid und fragten uns nur noch, wieso er immer noch bei uns auftauchte.

Fee: Wunsch Denken

Ich setze mich auf und streife mir mein Höschen über, das allein unter dem Leintuch liegt.
Ich schaue wieder zu ihm, seine bleichen Arme und das braunschwarze Haar und die kleine Nase und stelle mir für einen Moment vor, er wäre tot und das Blut auf der Decke aus seinem Kopf geronnen. Um es wiedergutzumachen, streiche ich ihm flüchtig über den Arm. Dann drehe ich mich weg und lege mich wieder hin, den Rücken zu ihm. Ich möchte nach Hause.

Als wir auf seinem Balkon den Joint rauchten, sah ich manchmal zu ihm rüber und fragte mich, ob er es bemerkt hatte. Vielleicht war er zu betrunken. Ich konnte nur an die Party denken. Ich glaube, der Papagei wollte mich auch zu sich nach Hause nehmen. Der Papagei ist eigentlich ganz in Ordnung, aber er hätte es nicht für sich behalten können. Alle hätten es gewusst. Fee und der Papagei. Hast du gehört? Fee war noch Jungfrau. Ohne Scheiss? Ja, echt.
Dann dachte ich, dort auf dem Balkon, dass es ganz in Ordnung ist so. Der Rauch kratzte im Hals.

Ich stellte es mir immer gut vor, diesen Moment, wo er ins Zimmer kommt und mich küsst und wir uns aufs Bett legen und er mir mein T-Shirt über den Kopf zieht und meinen BH öffnet. Ich dachte: Wenn es dann soweit ist, wird alles ganz einfach. Ich fand ihn nicht toll oder so. Er sass an der Party neben Adorno, Adorno starrte mich an mit seinem betrunkenen Blick, als ich zu dem Typen neben ihm ging und fragte, hast du eine Zigarette für mich? Adorno starrte mich an und sein Blick sagte, Schlampe. Der Typ sagte, ja, klar, wir gingen zusammen rauchen, und nach ein paar Sätzen küsste er mich, und das Balkongeländer schnitt mir in den Rücken, und Häschen und Tonna sassen da gerade auf dem Balkon nebenan, dem Schlafzimmerbalkon, und redeten, das weiss ich noch, weil ich die Augen geöffnet hatte beim Küssen. Ich dachte, Häschen und Tonna, die hab ich ja noch nie zusammen gesehen. Dann hab ich mir vorgestellt, wie Häschen Tonna auf einen Tisch hebt und ihr den Wollpulli über den Kopf zieht. Ich weiss auch nicht, woher das Bild kam. Ich stellte mir vor, wie er sie unsanft küsste und sie seine Hüften zwischen ihre Beine zog.
Ich vergrub meine Hände im Haar des Typen, und er biss mich ein bisschen in die Unterlippe, und das fühlte sich ganz gut an.

Sonntag, 20. Oktober 2013

Häschen: Drei Luftballons



Meine Grossmutter bringt mir Kaffee auf den Balkon. Schwarz, golden auf dem Messinglöffel, mit viel Zucker. Sie setzt sich zu mir und erzählt von den Luftballons, die heute früh auf ihrem Balkon gelandet sind. Einfach vom Himmel gefallen, sagt sie und deutet in die Ecke, wo staubig und verlegen etwa fünf Ballons liegen, an den perlmuttfarbenen Plastikschnüren zusammen geknüpft, smaragdgrün, karminrot und mädchenviolett. Ich würde auch mal gerne auf irgendeinem Balkon landen.

Samstag, 19. Oktober 2013

Adorno: Dosenbier


Im Bus schlafe ich ein, mein Handy vibriert und die Fensterscheibe neben mir auch, und ich kann nicht lange schlafen, schaue auf den Bildschirm: Komm runter zum Fluss. Es ist der Papagei.


Wo hast du eigentlich gepennt?, fragt mich der Papagei und reicht mir eine Dose Bier. Es ist zehn Uhr morgens. Meine Hose ist inzwischen trocken.

Bei J. Und du?

Hast es nicht mehr geschafft, hm? Ich war bei Tonna.

Ich nehme einen Schluck. Es ist lauwarm und mir wird halb schlecht davon. Aber vielleicht denke ich so weniger über gestern Abend nach. Der Papagei kann einen gut ablenken.

Und, ist was gelaufen?

Ne, quatsch. Du kennst ja Tonna. Die ist ein bisschen verklemmt. Gewollt hätte sie schon. Aber kennst mich ja. Ich nehm Rücksicht auf so was.

Auf was er Rücksicht nimmt oder inwiefern Tonna denn wollte, aber zu verklemmt war, ich gehe nicht darauf ein. Das muss ich auch nicht. Der einzige Grund, wieso der Papagei und ich befreundet sind: Ich frage genau so viel nach, wie er gerne erzählt. Ich lasse ihn in dem Licht stehen, in dem er sich selbst gerne sieht. Während ich weiss, dass er bei Tonna genauso chancenlos ist wie bei Una oder Aila oder Fee. Wobei, bei Fee vielleicht nicht völlig chancenlos. Aber Fee ist auch was anderes. Er dafür fragt mich nicht, wieso ich nach Pisse rieche oder bei Partys immer nur am gleichen Ort sitze und fast nie mit jemandem rede. Ich mag den Papagei dafür, dass er genauso scheisse ist, wie er sich gibt. Er ist wirklich der unsympathische Idiot, für den ihn alle halten. Deshalb lasse ich ihn in Ruhe und trinke sein ekliges Dosenbier. Besser, als zu duschen und schlafen zu gehen und irgendwie versuchen, mich auszuruhen. Das Schlimmste, was man nach Partys tun kann: Sich ausruhen. Dann beginnt man nur nachzudenken. Irgendwann merkt man, dass der Abend, der in der Morgendämmerung noch am Horizont schimmert wie ein fernes Abenteuer, das man durch die Dicke des Rauches versponnen erkennen kann, im Tageslicht betrachtet scheisse aussieht. An Partys passiert wenig Gutes. Leute tanzen auf Tischen, versuchen, einander abzuschleppen, betrunken zu machen oder zu demütigen, oder alles zusammen. Besser mit dem Papagei hiersitzen. Besser hier sitzen und Carl-Theodor-Bier trinken und so tun, als glaube man, dass Tonna auf den Papagei abfährt.

Fee: Obstauslagen

Die Sonne brennt durch die Ritzen zwischen den Fensterläden, und ich friere nicht mehr. Ich frage mich, ob ich wohl davon braun werde. Immerhin bin ich ja nackt.

Ich bin in einer dieser Blockwohnungen am Rand von einem dieser Dörfer, die sich wegen ihres grossen Einkaufszentrums urban fühlen. Wir sind da durch gegangen letzte Nacht, oder besser, heute, am frühen Morgen, nach der Party, nach der Busfahrt, und da gab es überall so kleine Läden, die 'Mini Market' oder 'Super Market' heissen und Obstauslagen mit angefaulten Früchten vor den Türen stehen haben, solche, die einem das Gefühl geben, irgendwo im Süden zu sein. Die waren da natürlich zugedeckt, die Obstauslagen, der frühe Morgen roch noch schmutzig, nach dem kalten Rauch der letzten Nacht. Als wir bei ihm waren, ging er kurz ins Bad und ich stand in seinem Schlafzimmer. Ich stand vor der offenen Balkontüre, fror, war seltsam aufgeregt und glücklich, glücklich, weil: Ich hätte da einfach wieder rausgehen können und auf den nächsten Bus zu mir nach Hause. Er stünde dann allein im Schlafzimmer und müsste die aufgebaute Vorfreude anderswie loswerden. Diese Vorstellung machte mir Gänsehaut. Vielleicht war sie das Aufregendste an der ganzen Nacht.

Freitag, 18. Oktober 2013

Tonna: Papageienlärm


Ich höre den Papagei erwachen. Ich höre ihn durch die Decke, durch das Holz, in meinem Zimmer, wie er sich im Bett auf die Seite dreht, sich aufsetzt, der Schlafsack knistert, als er ihn zusammenknüllt und gegen das Matratzenende wirft. Ich höre ihn aufstehen, ein wenig unbeholfen, zittrig noch, mit jedem Schritt, den er nehmen muss, um seine Kleidungsstücke einzusammeln, gewinnt er an Sicherheit. Angezogen stellt er sich vor den Spiegel, streckt die Hand nach meinem Deo aus und zieht sie sofort wieder zurück, erschrocken über sich selbst, denn es ist zwar ein Männerdeo, aber dasselbe Deo zu tragen wie eine Frau, so zu riechen wie eine Frau, so zu riechen wie ich, ist für den Papagei mehr als peinlich, es ist beschämend, beleidigend, ein Verrat an ihm und seinem guten Stil. Mit zwei Fingern der linken Hand streicht er die Haare auf den Seiten glatt und strubbelt die oben auf der Kopffläche auf, drückt die beiden Schneidezähne in seinem Mund zusammen, sodass die kleine Lücke zwischen ihnen verschwindet, die immer in der Nacht wieder aufgeht und durch die man, so glaubt er, in seinen Mundraum hineinsehen kann. Er nimmt seinen Kopf in beide Hände, indem er die Fingerkuppen an bestimmte Punkte im Gesicht setzt und die Finger dann auseinander spreizt, sodass seine Züge sich dehnen und strecken und hauttransplantationsartig und grotesk verzerren. Der Papagei zählt bis zwanzig, wartet kurz und zählt noch einmal bis fünfzehn, bevor er die Spannung gehen lässt und die Gesichtshaut an ihren Platz zurück schwappen darf. Er grinst sich im Spiegel zu, ignoriert den ungesunden Blauton um die Augen herum, der vom Alkohol oder dem Schlafmangel herrühren könnte und verlässt mein Zimmer, mit polternden Schritten schwingt er sich die Treppe hinunter. Er ruft nicht nach mir, ich höre ihn im Hauseingang die Schuhe anziehen und sich die Jacke über die Schulter hängen, und dann geht die Tür auf und mit Elan wieder zu und er ist fort, und die Stimmung im Haus verändert sich, ausgehend von mir, als wäre ich mit seinem Abgang einen physischen Schmerz losgeworden, eine Druckstelle, das Wissen, dass er im Haus ist und mit mir sprechen könnte, würde er es denn wollen.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Adorno: Schuhe im Vorzimmer



Bei J zu Hause riecht es nach Käse. Das ist mir schon gestern aufgefallen, als ich um acht als Erster da war und ihm geholfen habe, das Bier aus dem Keller raufzutragen. Aber jetzt ist der Geruch wie Kleber auf der Haut. Sogar meine Tasche riecht nach Käse. Meine Füsse sind nackt. Auf dem Weg zum Badezimmer trete ich auf ein paar Chips, die kleinen Stücke bleiben an meinen Fersen kleben. Ich habe Lust, mich zu übergeben, aber mein Magen ist leer. Ich trinke einen Schluck Wasser und spucke ihn gleich wieder aus. Erst auf der Toilette merke ich, dass ich gar keine Hosen trage. Wo sind meine Hosen? Ich gehe zum Sofa zurück, sie liegen daneben auf dem Boden und riechen merkwürdig. Ich ziehe sie trotzdem an, tappe über den Flur und nehme meine Schuhe, es stehen nicht mehr so viele andere da wie gestern Nacht, noch ein paar Ballerinas und so was. Una trägt nie Ballerinas. Also hat sie nicht hier geschlafen. Leise schiebe ich die Türe auf, trete hinaus und ziehe sie hinter mir wieder zu. Das Chaos in dem Haus will ich nicht aufräumen. Ich habe ja schon beim Alktragen geholfen.

Die Luft ist feucht und kühl und in den Sträuchern links und rechts des Eingangs hängt schwerer Tau. Ich denke an Una. Meine Hose ist klebrig in den Kniekehlen; ich ekle mich vor mir selbst, vor dem käseriechenden Haus und vor den Rhododendronbüschen davor. Mit der Hand fahre ich durch die kleinen stacheligen Heckenblätter. Sie fühlen sich an wie Plastik.

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Tonna: Identität einer Hirschkuh



Wenn meine Mutter nach dem Papagei fragt, werde ich sagen, der Papagei. Ein Junge, den ich kenne. Ach, niemand besonderes. Einer von einer Party. Keine grosse. J. Ja, das ist sein Name, J. So hiess der Junge, der die Party veranstaltete. J. Der Papagei. Und wenn sie seltsame Namen haben, aber das sind nicht meine Freunde. Jedenfalls nicht der Papagei. Weiss ich doch nicht, warum der in meinem Zimmer schläft. Er kam nicht mehr nach Hause. Hat sich eingeladen. Was sollte ich denn sagen? Ich kann ihn doch nicht auf der Strasse schlafen lassen.
Konnte ich das denn nicht? Ich hätte es tun sollen. Ich kann ihn so wenig leiden, den Papagei.

Der Papagei, der so laut ist und so schrill. Dem ich nicht zuhören mag, wenn er Geschichten erzählt. Weil ich seine Stimme nicht mag und auch, weil seine Geschichten immer auf Kosten anderer gehen. Der, als er jünger war, vielleicht zu viel ferngesehen hat mit seinen soviel älteren Brüdern, zu viel MTV, zu viel VIVA, zu viele nachgestellte Realityserien mit einem Mann, der sich aus fünfzig Frauen die richtige aussucht, obwohl er nicht einmal nett ist, nicht einmal hübsch, nur reich und mit grellen Klamotten, und es gibt Staffel eins, zwei und drei davon, weil wenn es beim ersten Mal so gut geklappt hat, warum nicht noch eine Runde. Er hat so eine blöde Art, sich selbst in den Mittelpunkt zu drängen, sich zu inszenieren, wie Quentin manchmal, laut lachen und andere in Nebensätzen demütigen, das können sie beide gut. Der Papagei, der, weil er selbst so einen bescheuerten Tiernamen hat, allen anderen auch bescheuerte Tiernamen geben will. Hirschkuh hat er mich genannt. Dabei bin ich keine Hirschkuh, ich bin ein Nilpferd, ein grosses, dickes, schweres Nilpferd, das sich im Schlamm am Flussufer wälzt und rote, gelbe und grüne Papageien von seinem Rücken pflückt und frisst und dann die Federn ins Wasser ausspuckt und sie schwimmen obenauf und treiben fort in der Strömung vom Fluss.

Dienstag, 15. Oktober 2013

Quentin: Erinnerungen an letzte Nacht


Erinnerung an letzte Nacht, von der ich nicht weiss, ob sie ein Traum war oder wirklich geschah.

Zitternd schwingt die dickgewordene Luft, dumpf vibrieren die Wände im Bass. Die Lampen an der niedrigen Decke, an der sich Köpfe stossen, bewegen sich hin und her und werfen zuckende Schatten auf den Boden, zuckende Schattengestalten von Menschen, die sich in der Musik wie in Flüssigkeit bewegen. Es ist eng, eng und stickig, der Geruch nach Alkohol, Rauch und Schweiss beginnt sich festzusetzen in den Wänden, in den Möbeln, in den Ecken. Irgendjemand stoppt abrupt das Lied um ein nächstes abzuspielen, ein langsameres, leichteres, flüssigeres, eines, während welchem die Lampen Zeit haben, sich in den Stillstand zu schwingen. Ich blicke mich um, sehe Pärchen an Wänden lehnen, Männer mit Frauen tanzen und Menschen, die Gläser leeren, als enthielten sie nur Wasser. Irgendwo am anderen Ende des Raumes wendet sich ein Gesicht mir zu, als hätte sie meinen Blick angesogen, gerufen, hebt Tonna den Kopf und sieht mich mit einer Verzweiflung an, die um Hilfe schreit. Ich beginne mich durch den Raum zu kämpfen, versuche, nicht abgelenkt zu werden von meinen Gedanken, die sich in Nebel verlieren und schwimme durch die alkoholgesättigte Luft, ich weiss nicht, wo mein Atem endet und wo die Menschen beginnen. Der Boden klebt unter meinen Füssen wie sumpfiger Morast, der sich mit einem seufzenden Ploppen von den Fusssohlen löst, es ist spät, viel zu spät, es ist die Zeit, in welcher Gläser brechen, Menschen zu zweit in Zimmern verschwinden und man schlafen sollte, nur schlafen, bis die Träume kommen, aber den Weg nicht finden können. Tonna streckt die Hände nach mir aus, hilflos wie ein Fisch, der an der Luft erstickt. Wenn ein Fisch ersticken kann. 'Komm.' Ich forme das Wort mit den Lippen, nicht mit meiner Kehle, mein Hals ist wundgerufen, wundgeraucht und die Musik lässt keine Geräusche neben sich zu. Ich ziehe Tonna zur Tür, über das schwankende Treppenhaus in ein fremdes Zimmer mit weissen Gästebetten. Am anderen Ende des Zimmers murmelt jemand leise im Schlaf, ich drücke die Tür hinter uns zu und ersticke den Lichtschimmer, der mit uns auf den Boden fiel, Dunkelheit legt sich über mein Gesichtsfeld. 'Was ist los?', flüstere ich und setze mich mit Tonna auf eine Matratze, die nicht mir gehört. 'Ich weiss nicht', antwortet sie mit einer Stimme, die weich und geschmeidig und zitternd ist und ich kann hören, dass sie weint. 'Ich bin so einsam', sagt sie leise. Erschrocken greife ich nach ihr, aber alles, was ich fasse, ist die Dunkelheit. 'Du bist nicht einsam', versuche ich zu sagen, aber die Worte verlieren sich irgendwo auf dem Weg zwischen meinem Kopf und meiner Zunge. Ich merke, dass ich betrunken bin, und drücke zwei Finger gegen meine Augen bis es schmerzt, aber der Nebel in meinem Kopf bleibt wie die Dunkelheit im Zimmer, die zermürbende, zerfressende Dunkelheit, die alles verschlingt ausser Tonnas Stimme. 'Wir sind alle einsam', sagt Tonna zwischen zwei Schniefern. 'Wir sind einander nie nahe, nie wirklich. Ich will mich in der Erde vergraben und tausend Jahre schlafen.' Ich drücke die Finger noch stärker in meine Augen und beisse mir auf die Lippen, versuche, die Worte zu finden, die heilen, aber meine Gedanken verflüchtigen sich wie Rauch, ich fasse nach ihnen und sie sind fort. Ich höre Tonna noch immer weinen, ich würde sie gerne festhalten, aber ich kann ihren Körper in der Dunkelheit nicht finden.

Montag, 14. Oktober 2013

Tonna: Aufwachen


Der Himmel ist blau, weissblau, papierblau wie ein Tropfen Tinte in einem Glas Milch. Das Licht fliesst wie Wasser ins Zimmer, berührt die graugemusterten Vorhänge, verfängt sich in den Falten, legt sich auf den Boden und kriecht langsam über den Teppich auf die Wand zu. Die ersten Farben mischen sich ins Grau und ins Schwarz und ins Braun der Nacht, sanft, als kratze man mit einem Schaber die oberste, noch feuchte Schicht eines frischübermalten Ölgemäldes fort und dahinter kämen die alterhaltenen Farben zart und hell zum Vorschein. Der Papagei liegt auf einer Matratze neben meinem Bett und gurgelt seltsame Geräusche im Schlaf. 'Hey', sage ich und stupse mit meiner Hand gegen die Matratze, aber dann frage ich mich, warum ich ihn überhaupt wecken will. Vorsichtig, vorsichtig stehe ich auf, steige über sein Gesicht und das Knäuel, das sein Körper unter der Bettdecke bildet, und kippe das Fenster nach innen. Die Luft, die von draussen hereinkommt, ist warm und weich. Ich gehe wieder an der Matratze vorbei und mache die Tür auf, gehe hindurch und schliesse sie lautlos wieder hinter mir, mit dem Klicken, das Metall macht, wenn es gegen Metall schlägt, rastet die Tür ins Schloss. Im Zimmer lag ein unangenehmer Geruch, der mir erst jetzt auffällt, wo ich nicht mehr diese Luft atmen muss. Nach dem Papagei roch sie und kaltem Zigarettenrauch. Ich gehe in die Küche und mache mir ein Müsli mit Cornflakes und Bananen und setze mich an den Tisch. Es ist noch niemand wach, still liegt das Haus da, das Zwitschern der Vögel dringt nicht durch die dicken Wände, und die Cornflakes in der Schüssel schwappen hin und her. Ich überlege mir, was ich sagen soll, wenn meine Eltern fragen, was das für ein Junge in meinem Zimmer ist und warum er hier schläft. Sie werden denken, ich hätte etwas mit ihm gehabt. Sie werden denken, er wäre mein neuer Freund. Sie werden es sich vorstellen, wie er sich mit mir auf mein Bett fallen lässt und seine Hand über meinen Bauch hinunter bis zwischen meine Beine fährt. Beim Gedanken daran wird mir leicht schlecht. Jedes Mal, wenn Quentin hier übernachtet, macht mein Vater am nächsten Morgen seltsam verklemmte Witze und meine Mutter fragt ihn, wann er denn mit dem Rauchen aufhören will. Meine Mutter hat eine Liste mit bevorzugten Verlobten für mich. Quentin war einmal an erster Stelle, aber dann hat sie herausgefunden, dass er raucht, und da ist er um zwei Plätze nach hinten gerutscht. Und dass er sich einmal über Frauen in Absatzschuhen und kurzen Kleidern lustig gemacht hat, fand sie gar nicht gut, sie hofft noch immer, ich könnte eines dieser Zwitschermädchen werden, die rosa Handtaschen tragen und sich die Augenlider schminken und dann in zu laute Clubs gehen und sich von Männern wie dem Papagei überteuerte Drinks bezahlen lassen, die sie aus langen Strohhalmen saugen, und dass Quentin das anders sah, ärgerte sie. Als ich Quentin von der Liste erzählt habe, hat er gelacht. Und dann war er auf einmal still, und ich wusste, was er gerade dachte: Wenn ich mich einmal verloben würde, dann würde es zwischen uns nicht mehr so sein wie jetzt. Nicht aus Eifersucht, ich würde schon aus Prinzip niemanden von der Liste meiner Mutter nehmen, aber irgendetwas würde ausklingen, die Luft zwischen uns würde dünner werden und aufhören zu vibrieren und wir würden uns seltener sehen und uns über Dinge unterhalten, die uns nichts bedeuten, und irgendwann würde Quentin den Kopf wegdrehen und sagen: Das ist doch banal. Und das wäre es dann auch, wir wären banal, und hätten es nicht einmal bemerkt.

Sonntag, 13. Oktober 2013

Quentin: Hardest Button to Button


Ich sitze immer noch am Fluss. Es wäre eigentlich spät genug, um nach Hause gehen zu können, ein wenig zu schlafen, vielleicht duschen, aber irgendwie will ich nicht mehr. Ich bin nicht müde, und beim Gedanken an Wasser, das aus dem Duschkopf rinnt, wird mir schlecht. Ich nehme mein Handy, es sagt mir ungefragt, der Akku sei beinahe leer, und klicke auf Musik. Ich habe meine Items, oder wie man denen sagt, diese Dinger, Kontakte, Fotos und so weiter und eben Musik in einer Liste geordnet, also nach Sprache, nach dem Wort, nicht nach Bildchen. Ich habe nur drei Lieder, eins davon ist ein Klingelton, den ich vor Urzeiten selber komponiert habe, er klingt nach Salsa und Süden und wiederholt sich alle sechs Sekunden, die beiden anderen Lieder sind von den White Stripes. Black Math und Hardest Button to Button. Ich spiele sie ab, zuerst Black Math, rauche dazu noch mehr Kent und als ich nach drei Minuten zu Hardest Button to Button komme, fällt es mir wieder ein. Ich habe doch auf dem Tisch getanzt. Zu diesem Lied, ich glaube, Tonna hat es abgespielt, irgendwann, als alle zu betrunken waren, um ihr die Musikanlage streitig zu machen. Keine Minute dauerte es, bis wieder irgendein pseudorebellisches Punkgeschrei, irgendein Offspringsong, irgendein Pagan-Metal-Trinklied lief, nicht einmal bis zum Refrain kamen wir. Fünfzig Sekunden, höchstens, und in diesen fünfzig Sekunden, in den besten fünfzig Sekunden der ganzen Party, bin ich auf den Tisch gesprungen und habe zu Hardest Button to Button getanzt, obwohl das ein Lied ist, zu dem kein Mensch und schon gar nicht ich tanzen kann.
 

Samstag, 12. Oktober 2013

Adorno: Ich habe noch nie


Wenn ich an gestern denke, will ich kotzen, aber ich glaube, die Party war geil - so geil, wie so eine Party eben sein kann, mit den normalen Einsamkeits- und Brechreizgefühlen, wobei ich mich manchmal frage, ob andere die auch haben. Brechreiz nicht unbedingt vom Alkohol, Brechreiz mehr vom Dasitzen und zuschauen und Flaschen mit dem Feuerzeug öffnen und bei jedem Trinkspiel dazustossen, dazusetzen, ich hatte noch nie Sex in der Schule, auf dem Klo, im Schlafzimmer der Eltern. Es kommt eigentlich nicht drauf an, wann man trinkt, ausser man ist der Einzige, der trinkt. Dann hat man was erreicht; Ruhm und Ehre wird einen zuteil, wenn sich plötzlich alle umdrehen und sagen: Krass, du hast schon mal…? Nach einem Ich-hab-noch-nie-Spiel setzen sich die Jungs zu dem Mädchen, das oft als Einzige getrunken hat. Häschen machte das gestern ganz gezielt: Nach dem Spiel hin zu dem Mädchen, das bei jeder vorgeschlagenen Stellung die Flasche hebt. Natürlich würde er das abstreiten. So wie alle alles abstreiten. Kantonsschüler sind die grössten Heuchler, die ich kenne. Das ist so ein Gefühl, das ich auf Partys kriege: Ich sitze da auf meinem Sessel und schaue auf den Balkon raus; ich sehe die Leute, die über Musik diskutieren und sagen: Ich habe die White Stripes schon immer geliebt und war auf unserer Schule immer der Einzige, der die hörte! Quentin ist so ein Exemplar. Er gibt sich furchtbar individuell, so mit Kappe und mit Parisienne Verte und so ein Scheiss, tanzt auf dem Tisch und gibt sich selbstvergessen, aber in der Bezirksschule, da stand er in der Raucherecke oder am Rand des Fussballplatzes und fragte süffisant den kleinen Jungen mit den Hochwasserhosen, wann er sich dann das letzte Mal die Haare gewaschen habe. Ich sehe die Leute pseudophilosophieren, höre sie sagen: Ich meine, mir ist scheissegal, wie sich jemand anzieht. Ich finde, man sollte immer ein bisschen rebellieren, egal, was man macht. Aber mit fünfzehn sassen sie in ihren Klassenzimmern und bewarfen das Mädchen in der vordersten Reihe mit vorgekauten Kaugummis.
Jetzt sagen sie, das sei Kinderkram und das hätten damals alle gemacht. Ich hole mir dann noch ein Bier. Sie sitzen alle in ihren Wohnzimmern und alternativen Bars mit Che-Guevara-Buttons auf ihren Jeansjacken und tun so, als hätten sie nie jemanden gedemütigt und getreten; jetzt sitzen sie zusammen und feiern das Anderssein.

Freitag, 11. Oktober 2013

Quentin: Gedanken über den Schellenunder


Wenn ich an gestern denke, kommt mir als erstes die Erinnerung an Tonna, wie sie dasitzt und versucht, die Karten zu mischen. Sie fallen ihr herunter, sie lacht ein wenig dumm und nimmt sie wieder auf, kehrt die, die verkehrt herum liegen, wieder um und beginnt von Neuem zu mischen. Ein paar Leute sitzen herum, wir warten um irgendein dämliches Trinkspiel zu spielen. Irgendwann nehme ich Tonna die Karten aus der Hand, um selber zu mischen. Es sind Karten des deutschschweizer Jasskartensets. Zum ersten Mal in meinem Leben fallen mir die Figurenkarten auf, Under, Ober und Könige, und ich vergesse die Menschen um mich herum und nehme die Karten aus dem Set und ordne sie nach Symbolzugehörigkeit um mich herum an. Besonders eine Karte drängt sich mir auf. Er sieht anders aus, der Schellenunder. Anders als der Eichenunder mit dem traurigen Blick, anders als der übereifrige Schiltenunder mit seinem Brief in der ausgestreckten Hand und der Feder hinter dem Ohr, anders als der stolze Rosenunder, der seine Pfeife pafft, als wäre sie ein Statussymbol. Schelmisch lächelnd steht er da, blickt als Einziger mich an, die eine Augenbraue wie im Spott leicht hochgezogen, die Zigarette im Mundwinkel und ein Gebilde um den kreisrunden Kopf geschlungen, von dem ich nicht weiss, nicht wissen kann, ist es ein Hut oder eine Blume, eine Narrenkappe oder ein Fasnachtskostüm? Wer er wohl ist, der Schellenunder, der so anders ist als die anderen, so anders als alle anderen Karten im Spiel? Versteht er sich mit ihnen, mit den Königen, den Obern, den anderen Undern, oder gehört er gar nicht dazu? Er gehört nicht auf dieselbe Weise zum Spiel, wie sie zum Spiel gehören. Er gehört zum Spiel, aber nicht dem Spiel. Er ist mehr als ein Bild auf einer Karte, mehr als eine Figur im Rennen, mehr als eine Punktzahl auf dem Blatt. Er hat ein Leben, irgendwo ausserhalb der Ränder seiner weissen Karte, irgendwo dort, wo wir nur in den Träumen hingelangen, steht er da und lacht und küsst eine Frau.
'Spielen wir jetzt ein Trinkspiel oder nicht?', fragte irgendjemand, ich glaube, es war Häschen, wütend, weil er ohne Trinkspiele nicht weiss, wie er Spass haben soll. 'Quentin, gib die Karten her.' Ich wollte erst aufstehen und die Runde verlassen, aber dann dachte ich, was solls, zündete mir eine Zigarette an und schenkte mir von dem herumstehenden Whisky vierfingerbreit ein in mein Glas.

Donnerstag, 10. Oktober 2013

Fee: Morgen Aufwachen


Ich erwache, weil mir kalt ist, und das ist, weil ich ohne Decke da liege, weil er das grüne Leintuch ganz zu sich herübergezogen hat. Er liegt vor mir – ich sehe nur seinen Rücken. Oben beim Nacken hat er viele kleine rote Pickel. Im Zimmer riecht es nach Schweiss.
Das Fenster steht offen, und ich überlege mir, wie es draussen wohl aussieht. Wahrscheinlich ist es schon hell. Ich weiss es nicht, denn die Läden sind geschlossen. Ich kann mich noch an einen Balkon erinnern, weil wir da einen Joint geraucht haben, irgendwann. Aber der muss auf einem anderen Zimmer gewesen sein. Ich kann mich auch noch erinnern, wie wir hier her kamen, wir fuhren etwa eine Stunde mit irgendeinem Bus und es war mir furchtbar peinlich, ein paar Leute aus meiner Klasse zu sehen, wie ich so vor dem Automaten stand und meine Fahrkarte löste und er mir währenddessen über den Rücken strich, immer vom Nacken bis zum Ende der Wirbelsäule, mit zwei Fingern, und wieder hinauf.
'Hey, wo wart ihr denn?', fragten die aus meiner Klasse.
'Auf Js Party.'
'Ah, da wollten wir erst auch hin. Und jetzt geht ihr', sie warfen ihm einen bedeutungsvollen Blick zu, er schaute angestrengt zu Boden, 'nach Hause?'

'Denk schon', antwortete ich und versuchte, entspannt zu lächeln, doch ich schaute dabei auch auf den Boden, und das wirkte, glaube ich, nicht so entspannt.

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Quentin: Blaue Kent



Blaue Kent
Ich sitze auf einer kleinen, grüngelben Wiese am Fluss. Ich bin nochmals eingeschlafen und nochmals aufgewacht. Mir geht es besser jetzt, die Träume waren heller, klarer, weniger verworren und bedrängend, der zähe grüne Schleim in meinem Kopf ist beinahe fort. Die Welt riecht immer noch ein wenig schlecht, vielleicht ist der Geruch in meiner Nase, in meinem Schädel, vielleicht bin ich schizophren und er verfolgt mich nun für immer. Wie Tinnitus. Ich durchsuche meine Jackentaschen nach Kaugummi und finde eine halbvolle, zerquetschte Packung Kent, die nicht mir gehört. Ein blassrosa Feuerzeug mit Pferden darauf ist drin, was ich seltsam finde. Es hat etwas Kindliches, als gehöre es einer Primarschülerin mit braunen Locken und Glitzerfingernägeln und einem Stapel Wendyheftchen, die sie während der Mathestunde unter dem Pult liest und daraus Zitate in die Freundschaftsbücher ihrer Freundinnen abschreibt. Aber was sollte ein solches Mädchen mit einem Feuerzeug und einer Packung blauer Kent? Die Zigaretten könnten Fee gehören, das würde passen, aber ich habe keine Ahnung, wie sie in meine Jackentasche gekommen sind. Mein Bezug zu Fee ist nicht so toll, dass sie mir ihre Zigaretten schenken würde, und ich bin nicht der Typ, der einem Mädchen die Zigaretten stiehlt, wenn es gerade nicht hinsieht oder anderswie beschäftigt ist. Obwohl, bei Fee wäre das irgendwie noch ganz amüsant. Ich glaube auch nicht, dass es ihr auffallen würde, Fee raucht nur, wenn Leute dabei sind, und auch nur, weil sie denkt, das mache sie verführerisch. Aber da bräuchte es schon mehr als das bisschen Rauch vor ihrem Gesicht, dass irgendjemand von uns Fee begehren könnte. Ausser vielleicht der Papagei, aber der steht auch auf alles, was lange Haare hat und auf den ersten Blick nach Frau aussieht. Was macht der Papagei bei Tonna? Die Zigaretten sind seltsam, der Filter ist nicht orange, sondern weiss und hat einen blauen Strich drauf. Klick-Zigaretten, auch das noch. Ich zünde die Zigarette mit dem Pferdefeuerzeug an und widerstehe der Versuchung, sie zu klicken. Die Versuchung kommt nicht aus mir, von innen, fremd und uneingeladen und widerlich steht sie vor mir und grinst mir anzüglich zu. Ich will kein Pfefferminz in meinem Rauch, in meinen Atemwegen, und eine ungeklickte Klickzigarette zu rauchen ist, als würde ich der Versuchung mit der Faust ins Gesicht schlagen, bis sie Blut auf den Boden spuckt und sich mit dem Ärmel über Mund und Nase wischt und rot schmiert sie sich die gefärbte Spucke, den gefärbten Rotz über die Wangen und im Mundwinkel sammeln sich Blutblasen, kleine nur, die aufblubbern und lautlos zerplatzen.
 

Dienstag, 8. Oktober 2013

Adorno: Kastanien


In der Früh sehe ich den traurigen Jesus über mir und höre ernste Stimmen von draussen. Es ist so still bei J zu Hause, dass ich höre, wie die zwei Leute auf dem Balkon in den Redepausen an ihren Zigaretten ziehen und den Rauch in die Luft blasen. Eine weissgraue Spirale verflüchtigt sich ins Wohnzimmer. Ich drücke mein Gesicht in das kratzige Sofakissen.
'Als Kind war ich mit meiner Mama immer im gleichen Häuschen im Tessin.'
Rauch raus.
'Das war früher mal ein Häuschen, um Kastanien zu trocknen. Also total klein.'
Rauch rein.
'Wie klein?'
'Wenn man reinkommt, steht man in der Küche. Dort gibt es einen Herd und ein Tischchen mit zwei Stühlen. Die Stühle mussten wir rausstellen, um etwas kochen zu können. Bei Regen haben wir sie dann wieder reingeholt.'
'Klingt schön.'
'Es gibt eine kleine Treppe und ein Bett unter dem Dach. Man kann durchs Fenster den Himmel sehen, wenn man da liegt.'


Ich weiss nicht einmal, wer da draussen sitzt, ich kann ihre Stimmen nicht auseinander halten. Ich würde gerne noch mehr über das Kastanienhäuschen hören, aber wahrscheinlich hören sie auf, darüber zu reden, wenn ich auch nach draussen komme. Vielleicht sollte ich nach Hause, weiterschlafen.

Montag, 7. Oktober 2013

Quentin: Rhododendron


Rhododendron
Ich komme an einem Haus vorbei. Es ist Js Haus. Oder das seiner reich geborenen und durch Aktiengeschäfte und kleinkriminellem Steuerhinterzug noch reicher gewordenen Eltern. Das Haus ist gross und weissgekalkt und steht auf der anderen Seite der Strasse, hinter einem schwarzen Zaun, hoch und edel und abweisend und pseudoantik. Ich glaube, ich bin da gestern drüber geklettert. Der Garten liegt versteckt hinter Rhododendronbüschen mit ekelerregend fleischigen Blättern, die nach mir zu greifen scheinen. Dämlich dunkelgrün schweben sie in der Morgenluft. Ich würde gerne in den Garten schauen, um zu sehen, ob alles noch daliegt, Bierdosen, Bierdeckel, Wodkaflaschen, halbleere und auch ganz leere, dafür zersplitterte Kleiner-Feigling-Flaschen, so wie sie gestern dalagen, gestern Nacht, heute Nacht, aber dazu müsste ich die Strasse überqueren, und die Strasse scheint mir, obwohl kein Auto fährt, wie ein reissender brasilianischer Fluss voller Alligatoren, obwohl ich eigentlich weiss, dass Alligatoren in stillen, nicht in reissenden Gewässern lauern. Ich würde gerne Tonna anrufen. Ich würde gerne gegen den Rhododendron kotzen. Habe ich gestern auf dem Tisch getanzt?
 

Samstag, 5. Oktober 2013

Quentin: Aufwachen


Aufwachen
Ich erwache vom brüllenden Lärm eines wildgewordenen Löwenmännchens, das von hoch oben hinunter in meine Ohren schreit. Ein paar Tropfen seiner Spucke rinnen über meine Stirn. Ich mache die Augen auf, sie sind nass und verklebt, eine gelbliche Schicht liegt über meinem Gesichtsfeld. Es ist keine Spucke, es ist Bier, und es ist kein Löwe, es ist eine Autobahnbrücke. Ich versuche mich aufzusetzen. Ich setze mich auf. Ich sitze auf einem Stein, er ist unangenehm scharf und pikst in mein Bein. Ich sitze schräg in einem Hang, hinter mir steigt die Welt leicht an, Betonplatten, die die Erde am Boden halten, über den Platten läuft die Brücke in den Hang. Vor mir ein Kiesweg, darunter Büsche, dann ein Fluss. Die Welt riecht nach erkaltetem Rauch und Bier, oder ich rieche nach erkaltetem Rauch und nach Bier. Ich versuche aufzustehen, mir wird ein wenig schwarz vor Augen, aber ich stehe. Kopfschmerzen kommen und gehen in Wellen, sinuskurvengleich. Ich klettere den Abhang hinunter auf den Weg, der Kies knirscht und wirft weissen Staub in die Luft. Keine Schuhe habe ich an. Nur Socken. Ich drehe mich nach links, nach rechts. Kein Mensch, keine Möwe, verdreckte Tauben nur. Wie spät es wohl ist? Es muss früher Morgen sein, der Himmel ist schon hell, aber keine Sonne, und auch keine Wolken, hinter der sich die Sonne verstecken könnte. Es ist Tag. Es war Nacht. Was war in der Nacht? Party. Js Party. Ich kann mich ziemlich gut an letzte Nacht erinnern. Die Fülle der Erinnerungen steht in keinem Verhältnis zum Alkoholkonsum. Oder den Kopfschmerzen. Vielleicht ersetzen die Kopfschmerzen ja die fehlenden Erinnerungen. Vielleicht erhält man immer nur das eine, Kopfschmerzen oder Blackout, und es ist wie Lotto, was man kriegt, wie Roulette, ausser dass man nicht setzen kann. Ich will auf mein Smartphone schauen, um die Zeit zu erfahren, aber noch bevor ich nach meiner Hosentasche fassen kann, fällt mir ein, dass ich ja kein Smartphone besitze. Ich durchsuche dann trotzdem die Hosentasche und finde mein aufklappbares Retrohandy, das so alt ist, dass es eigentlich in sein sollte, es aber nicht ist. Keine Anrufe verpasst, zwei seltsam verzweifelt klingende SMS von Tonna von 5 Uhr 03 und 5 Uhr 04. '?Wo bist du?' und 'Wo bist du, Hilfe, der Papagei'. Es hat keinen Sinn, ihr jetzt zurückzuschreiben, sie wird es vergessen haben. Was macht der Papagei mit Tonna? Ich überlege, ob ich wütend werden sollte, aber mir will nicht einfallen weshalb, also lasse ich es sein. Es ist halb sechs, sagt mein Handy mir. Zu früh, um nach Hause zu gehen. Wohin dann? Immer noch niemand auf diesem komischen Kiesweg, auf dem ich so verlassen stehe. Wohin nur? Ich würde gerne zurück an die Party, aber die Party ist vorbei.