Dienstag, 5. November 2013

Tonna: Gestern Nacht


Gestern Nacht, als ich mit dem Papagei nach Hause ging, liefen wir durch die Unterführung nahe am Fluss. Die eine Laterne war ausgegangen, und die andere Glühbirne von Spinnweben eingehüllt, Spinnweben, die erzitterten, wenn ihre Bewohnerinnen mit ihren Opfern kämpften. Metergross warf die Glühbirne die zuckenden Schatten der Spinnen auf den Boden. Die Wand darunter war grau, ein schmutziges, helles Grau, das Grau von plattgedrückten Kaugummis und frisch gereinigten Mauern.



'Sie haben die Graffitis weggemacht', sagte ich zum Papagei. 'Nicht übermalt, mit dem Hochdruckreiniger. Sie sind alle weg. Da, siehst du? Nur in den Rillen klebt noch die Farbe.' Ich strich mit dem Finger über Rillen, hoffte, die Farbe würde an meiner Haut kleben bleiben, aber das war lächerlich und ich hörte schnell wieder damit auf. 'Ich hab früher auch Graffitis gemalt, als ich sechzehn war. Graffitiking nannten sie mich. Nicht nur meine Freunde, das ganze Dorf. Die Bullen haben mir immer aufgelauert, um mich zu erwischen. Habens aber nie geschafft. Nur einmal, einmal...' Der Papagei schien ausnahmsweise zu bemerken, dass ihm niemand zuhörte, oder er wusste nicht, wie seine Geschichte weiterging, er hörte auf zu sprechen und begann, mich anzustarren.

Ich konnte seinen Blick in Nacken fühlen, aber ich beachtete ihn immer noch nicht. 'Ich hätte nie gedacht, dass sie diese Wand je sauber machen würden. Wie viele Menschen haben sie beschrieben? Wie viele Zeichnungen, Verewigungen waren hier? Wie viele Sätze sind verschwunden, verloren gegangen durch fünf Minuten mit dem Hochdruckreiniger?', fragte ich, obwohl ich wusste, dass der Papagei als Allerletzter eine Antwort darauf hatte.

'Keine Ahnung. Können wir jetzt gehen? Mir ist kalt.' Demonstrativ zog er die Schultern hoch bis in den Nacken.

'Mein Name stand mal hier', sagte ich. 'Meiner und acht andere. Benjamin. Raffael. David. Céline. Sandra. Gabriele. Marco. Miriam. Und meiner. Ungefähr hier.' Ich malte mit meinem Finger einen kleinen Kreis um die Stelle, wo die Namen gestanden hatten. 'Nicht als Graffiti. Mit Filzstift. Mit schwarzem Filzstift.'

'Weshalb hast du deinen Namen auf die Wand geschrieben?', fragte der Papagei.

'Nicht ich. Ich hatte eine Freundin, Ricarda, sie hat das gemacht.'

'Mh. Ich hatte mal was mit einer Ricarda. Vor etwa zwei Monaten. In einem Club. Fünf Männer standen um sie herum, wollten mit ihr tanzen, und dann bin ich hingegangen, gar nichts musste ich sagen, nur meinen Blick machen, du weisst ja, diesen Blick', der Papagei legte den Kopf ein wenig schief und starrte mich mit halb geöffnetem Mund durch seltsam zusammengekniffene Augen an - 'dem kann keine Frau widerstehen. Und auch kein Mann. Jedenfalls bin ich zu ihr hin, hab den Blick gemacht, sie sofort weg von den fünf Männern, zu mir hin. Getanzt haben wir. Was dann noch alles passiert ist, du willst es gar nicht wissen.' Der Papagei wartete einige Sekunden, um mir Zeit zu geben, ihn zu fragen, was dann noch alles passiert war, aber ich wollte es wirklich nicht wissen. 'Nun ja, vielleicht war es ja dieselbe Ricarda', sagte der Papagei schliesslich ein wenig enttäuscht, weil ich ihn nicht fragen wollte, was er alles mit dieser Ricarda gemacht hatte.

'Ich glaube nicht.'

'Vielleicht doch', insistierte er. 'Braunes Haar hatte sie.'

'Ricarda war blond.' 'Vielleicht hat sie es ja gefärbt.' 'Ich glaube nicht.' 'Warum nicht? Soll es geben. Ich habe mein Haar auch schon gefärbt. Mehrmals.' 'Ich glaube trotzdem nicht.' 'Warum nicht? Könnte doch sein.'

'Nein', sagte ich. 'Nein, es kann nicht sein. Sie lebt nicht mehr hier.'

'Wo lebt sie dann?', fragte der Papagei. Ich atmete ein wenig ein und aus, die Nachtluft war tatsächlich kalt geworden, biss in meiner Lunge, aber vielleicht war das auch nur der Rauch von der widerlichen Zigarette, die der Papagei neben mir im Stehen rauchte.

'Sie lebt überhaupt nicht mehr', sagte ich dann. 'Sie ist in den Fluss gefallen.'

'Oh.' Der Papagei schwieg einen Moment, hob dann die Stimme eine halbe Oktave höher als üblich und fragte: 'Gefallen?'

'Nein, nicht gefallen', sagte ich. 'Gesprungen. Man fällt nicht einfach so in den Fluss, wenn es Winter ist und schneit und man Kleider anhat, die sich mit fünf Grad kaltem Wasser vollsaugen werden und einen nach unten ziehen, noch bevor man Zeit hat, ein letztes Mal Luft zu holen.'

'Nein', gab mir der Papagei recht, 'nein, das tut man wirklich nicht.'

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