Gestern
Nacht, als ich mit dem Papagei nach Hause ging, liefen wir durch die
Unterführung nahe am Fluss. Die eine Laterne war ausgegangen, und
die andere Glühbirne von Spinnweben eingehüllt, Spinnweben, die
erzitterten, wenn ihre Bewohnerinnen mit ihren Opfern kämpften.
Metergross warf die Glühbirne die zuckenden Schatten der Spinnen auf
den Boden. Die Wand darunter war grau, ein schmutziges, helles Grau,
das Grau von plattgedrückten Kaugummis und frisch gereinigten Mauern.
'Sie
haben die Graffitis weggemacht', sagte ich zum Papagei. 'Nicht
übermalt, mit dem Hochdruckreiniger. Sie sind alle weg. Da, siehst
du? Nur in den Rillen klebt noch die Farbe.' Ich strich mit dem
Finger über Rillen, hoffte, die Farbe würde an meiner Haut kleben
bleiben, aber das war lächerlich und ich hörte schnell wieder damit
auf. 'Ich hab früher auch Graffitis gemalt, als ich sechzehn war.
Graffitiking nannten sie mich. Nicht nur meine Freunde, das ganze
Dorf. Die Bullen haben mir immer aufgelauert, um mich zu erwischen.
Habens aber nie geschafft. Nur einmal, einmal...' Der Papagei schien
ausnahmsweise zu bemerken, dass ihm niemand zuhörte, oder er wusste
nicht, wie seine Geschichte weiterging, er hörte auf zu sprechen und
begann, mich anzustarren.
Ich
konnte seinen Blick in Nacken fühlen, aber ich beachtete ihn immer
noch nicht. 'Ich hätte nie gedacht, dass sie diese Wand je sauber
machen würden. Wie viele Menschen haben sie beschrieben? Wie viele
Zeichnungen, Verewigungen waren hier? Wie viele Sätze sind
verschwunden, verloren gegangen durch fünf Minuten mit dem
Hochdruckreiniger?', fragte ich, obwohl ich wusste, dass der Papagei
als Allerletzter eine Antwort darauf hatte.
'Keine
Ahnung. Können wir jetzt gehen? Mir ist kalt.' Demonstrativ zog er
die Schultern hoch bis in den Nacken.
'Mein
Name stand mal hier', sagte ich. 'Meiner und acht andere. Benjamin.
Raffael. David. Céline. Sandra. Gabriele. Marco. Miriam. Und meiner.
Ungefähr hier.' Ich malte mit meinem Finger einen kleinen Kreis um
die Stelle, wo die Namen gestanden hatten. 'Nicht als Graffiti. Mit
Filzstift. Mit schwarzem Filzstift.'
'Weshalb
hast du deinen Namen auf die Wand geschrieben?', fragte der Papagei.
'Nicht
ich. Ich hatte eine Freundin, Ricarda, sie hat das gemacht.'
'Mh.
Ich hatte mal was mit einer Ricarda. Vor etwa zwei Monaten. In einem
Club. Fünf Männer standen um sie herum, wollten mit ihr tanzen, und
dann bin ich hingegangen, gar nichts musste ich sagen, nur meinen
Blick machen, du weisst ja, diesen Blick', der Papagei legte den Kopf
ein wenig schief und starrte mich mit halb geöffnetem Mund durch
seltsam zusammengekniffene Augen an - 'dem kann keine Frau
widerstehen. Und auch kein Mann. Jedenfalls bin ich zu ihr hin, hab
den Blick gemacht, sie sofort weg von den fünf Männern, zu mir hin.
Getanzt haben wir. Was dann noch alles passiert ist, du willst es gar
nicht wissen.' Der Papagei wartete einige Sekunden, um mir Zeit zu
geben, ihn zu fragen, was dann noch alles passiert war, aber ich
wollte es wirklich nicht wissen. 'Nun ja, vielleicht war es ja
dieselbe Ricarda', sagte der Papagei schliesslich ein wenig
enttäuscht, weil ich ihn nicht fragen wollte, was er alles mit
dieser Ricarda gemacht hatte.
'Ich
glaube nicht.'
'Vielleicht
doch', insistierte er. 'Braunes Haar hatte sie.'
'Ricarda
war blond.' 'Vielleicht hat sie es ja gefärbt.' 'Ich glaube nicht.' 'Warum nicht? Soll es geben. Ich habe mein Haar auch schon gefärbt.
Mehrmals.' 'Ich glaube trotzdem nicht.' 'Warum nicht? Könnte doch
sein.'
'Nein',
sagte ich. 'Nein, es kann nicht sein. Sie lebt nicht mehr hier.'
'Wo
lebt sie dann?', fragte der Papagei. Ich atmete ein wenig ein und
aus, die Nachtluft war tatsächlich kalt geworden, biss in meiner
Lunge, aber vielleicht war das auch nur der Rauch von der widerlichen
Zigarette, die der Papagei neben mir im Stehen rauchte.
'Sie
lebt überhaupt nicht mehr', sagte ich dann. 'Sie ist in den Fluss
gefallen.'
'Oh.' Der Papagei schwieg einen Moment, hob dann die Stimme eine halbe
Oktave höher als üblich und fragte: 'Gefallen?'
'Nein,
nicht gefallen', sagte ich. 'Gesprungen. Man fällt nicht einfach so
in den Fluss, wenn es Winter ist und schneit und man Kleider anhat,
die sich mit fünf Grad kaltem Wasser vollsaugen werden und einen
nach unten ziehen, noch bevor man Zeit hat, ein letztes Mal Luft zu
holen.'
'Nein',
gab mir der Papagei recht, 'nein, das tut man wirklich nicht.'
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