Donnerstag, 14. November 2013

Tonna: Gespräche mit Quentin


Ich putze mir gerade die Zähne, als es an der Tür klingelt. Ich höre mit den Bürstbewegungen auf und lausche, ob jemand aus meiner Familie zur Tür geht, um sie zu öffnen, aber es bleibt still, also spucke ich die Zahnpastasosse, die weiss ist mit kleinen hellblauen Pünktchen darin, in das Waschbecken, gebe die Zahnbürste von einer Hand in die andere, weiss nicht, wohin mit ihr, stecke sie der Einfachheit halber und auch, weil sie dort irgendwie hingehört, wieder zwischen meine Zähne und laufe zur Tür. Quentin sieht besser aus als gestern. Er hat sich die Haare gewaschen und frische Kleider angezogen, obwohl ich das eigentlich nicht sicher wissen kann, weil seine Haare trocken sind und er immer dieselbe Kleidung trägt, dunkle Jeans, dünner dunkler Pullover, schwarze Jacke darüber. 'Hallo Quentin', sage ich und nehme die Zahnbürste aus meinem Mund. 'Gut ausgenüchtert?'
'Bestens. Ist der Papagei nicht mehr hier?' 'Nein. Der ist schon seit Stunden fort.' 'Ah.' Quentin wippt ein wenig auf seinen Schuhsohlen vor und zurück. Er trägt seltsame Schuhe aus Leder, die irgendwie modisch aussehen und vorne spitz zulaufen und so gar nicht zu ihm passen wollen.
'Kommst du mit?', fragt er, als er genug gewippt hat.
'Wohin denn?' 'Zu Aila nach Hause. Hat dir Una keine SMS geschrieben?' 'Mein Handy ist aus.' 'Ach so. Aila hat Geburtstag. Anscheinend. Hat sie gesagt. Geschrieben. Wir sollen zu ihr. Kommst du mit?'
Wir gehen zu Fuss, Aila wohnt nicht weit von mir, zwanzig Minuten vielleicht, fünfundzwanzig, wenn ich mit Quentin gehe. Er läuft immer so langsam, als hätte er etwas hinter sich liegen lassen und könnte sich nicht entscheiden, ob er umdrehen und es holen soll oder nicht. Er schweigt ein bisschen, als wir nebeneinander herlaufen, und ich frage mich plötzlich, an wie viel von gestern Nacht er sich erinnert, und ob ich noch wütend auf ihn bin. Weil er mich mit dem Papagei im Stich gelassen hat und auch, weil er manchmal einfach ein Arschloch ist. Aber mich vor dem Papagei zu beschützen ist eigentlich nicht seine Aufgabe. Überhaupt bin ich nicht seine Aufgabe. Seine einzige Aufgabe, vor allem an einer Party, ist es, Spass zu haben. Aber das hat er, glaube ich, auch nicht allzu gut hingekriegt. Quentin bleibt stehen, zieht mit den Lippen eine Zigarette aus der Packung und zündet sie sich mit einem altrosa Feuerzeug an. Er nimmt den Rauch in den Mund und bläst ihn über seine rechte Schulter fort, damit ich ihn nicht atmen muss, aber das ist so etwas, das können auch nur Raucher glauben, dass das funktioniert, wenn sie den Rauch einfach fortblasen, ich rieche ihn natürlich trotzdem. Seine Zigaretten riechen besser als die vom Papagei. Quentin raucht und geht neben mir her und schweigt und sieht mich ab und zu an und scheint zu warten, dass ich etwas sage. Dass nicht er mit dem Plaudern beginnt, ist ein wenig seltsam, aber vielleicht ist ihm ja doch aufgefallen, dass er gestern nicht allzu feinfühlig war. Gestern war ich wütend auf ihn. Aber Gestern ist vorbei, und der Gedanke daran ist wie der Gedanke an eine matte Milchglasscheibe, ich finde nicht viel, zu dem ich Emotionen aufbringen könnte, ohne eine Heuchlerin zu sein. Die stärkste Erinnerung ist wohl die, dass da überall an den Wänden gerahmte Gedichte von Christian Morgenstern herumhingen, kleine schwarze Texte vor zu viel weissgebleichtem Papier, und ich bin rumgegangen und habe die alle gelesen. Ich habe Christian Morgenstern nie kennengelernt, aber seine Gedichte reichen völlig aus, um ihn stärker zu hassen, als ich je einen lebenden Menschen werde hassen können. 'Ich mag Christian Morgenstern nicht', sage ich also. 'Mehr als das, ich hasse ihn, und ganz besonders hasse ich seine Gedichte. Mir wird schlecht, wenn ich noch eins hören muss.' Quentin grinst. 'Es sass ein Wiesel...' 'Hör auf!' Ich schreie fast. Quentin wendet sein Gesicht ab, wahrscheinlich, weil er nicht will, dass ich ihn lachen sehe. Mit dem Handrücken wischt er sich das Lachen aus der unteren Gesichtshälfte und fragt mich dann, warum ich Christian Morgenstern denn nicht mag. 'Der ist doch lustig'.
'Nein', sage ich. 'Nein, ist er nicht. Er ist nicht lustig. Er ist kein bisschen lustig.'
'Vielleicht nicht.' Quentin wirft die halbgerauchte Zigarette auf den Asphalt und zertritt sie mit der Spitze seines Schuhs. 'Grässliche Schuhe', sagt er. 'Die gehören meinem Vater. Meine habe ich verloren.'
'Wo? An der Party?'
'Ich weiss nicht. Ich denke schon. Ich sollte weniger trinken, glaube ich.'
'Vielleicht. Ja.'
'Hm.' Quentin schweigt ein bisschen, als denke er an etwas Wichtiges. Er hebt die Arme, verschränkt sie hinter dem Kopf wie bei einer Dehnübung, lässt sie wieder fallen und vergräbt die Hände in den Jackentaschen. 'Ich würde gerne auf diese Parkbank sitzen und den Vögeln zuhören', sage ich, als er nichts mehr sagt, und zeige auf die Parkbank am Weg, hinter der der Wald beginnt. 'Ich auch', sagt Quentin, geht hin und wischt mit dem Ärmel seiner Jacke ein paar Ameisen von der Bank.
'Müssen wir nicht zu Aila?'
'Die vermissen uns doch sowieso nicht dort.'
'Du hast auf dem Tisch getanzt', sage ich, weil mir das gerade eingefallen ist und beginne bei der Erinnerung zu lachen. 'Zu was für einem Lied? Riff Raff?'
'Hardest Button to Button', sagt Quentin und nimmt sein Gesicht in beide Hände. 'Ich glaube, es war schrecklich. War es schrecklich?'
'Nein, es war nett. Es war wirklich nett. Una wäre fast gestorben vor Eifersucht.'
'Das habe ich noch mitbekommen', sagt Quentin und lacht ein wenig spöttisch, bevor er wieder leise wird. 'Das ist die letzte gute Erinnerung an diesen Abend', sagt er irgendwann. 'Die allerletzte. Wie der Tisch unter mir sich bewegt, wie Una sich bemüht, anderswo hinzusehen, wie du vor der Musikanlage am Boden sitzt und auf deinen IPod starrst.'
'Meine auch. Danach ist, glaube ich, nichts Gutes mehr passiert. An der ganzen Party.'
'Wir hätten nach Hause gehen sollen. Bevor sie das Lied umgeschaltet haben.' Quentin zündet sich eine nächste Zigarette an und verzieht das Gesicht. 'Das sind die widerlichsten Zigaretten, die ich je geraucht habe.' Seine Stimme ist rau vor Rauch. 'Klick-Zigaretten.' Er fuchtelt mit der Schachtel vor meinem Gesicht herum, als helfe mir das den Unterschied zwischen Klick- und richtigen Zigaretten zu verstehen.
'Wirf sie doch fort.'
'Hast du mit dem Papagei geschlafen?' Die Frage klingt seltsam, als Quentin sie stellt, und ich lache ihn aus. Er lehnt sich zurück, bis sein Rücken das Holz der Parkbanklehne berührt, dreht den Kopf in meine Richtung und bläst mir Rauch ins Gesicht. 'Hör auf damit', sage ich. 'Das ist fast so widerlich wie die Vorstellung, mit dem Papagei zu schlafen.' Quentin grinst ein bisschen und raucht selbstgefällig und schweigend seine Zigarette.
Wir sitzen noch eine Weile nebeneinander und hören den Vögeln zu, die hinter uns im Wald schreien, dem Wasser, das in den Brunnen plätschert. Als wir aufstehen, lässt Quentin die Zigaretten auf der Parkbank liegen. Das Feuerzeug auch.

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